Finnische Invasion
4. September 2009Wenn morgens um halb zehn die erste große Fähre in Tallinn anlegt, reißt der Betrieb im Passagierhafen der estnischen Hauptstadt nicht mehr ab. Nach knappen zwei Stunden Überfahrt drängen sich Hunderte Finnen frisch und unternehmungslustig die Rolltreppen des großen Schiffs hinunter. Allesamt mit großen Rücksäcken oder rollenden Einkaufstaschen ausgerüstet.
In Estland sei alles nur halb so teuer wie in Finnland, meint eine junge Frau in Jeans, die mit ihrem Mann und den zwei Töchtern große Taschen geschultert hat. Da könne sie viel sparen und sogar noch essen gehen. "Ich werde heute Käse kaufen, Rotwein und Zigaretten. Die Überfahrt kostet nur 18 Euro. Am Abend fahren wir wieder zurück."
Älter als Helsinki
Andere wollen die mittelalterliche Kultur der ehemaligen Hansestadt Reval genießen. Die finnische Hauptstadt Helsinki sei viel jünger, da gebe es keine verwinkelten Gassen oder alte Kontorhäuser zu bewundern. "Es ist toll zu sehen, wie sich Tallinn im Laufe der letzten 20 Jahre entwickelt hat", sagt eine Dame im hellen Seidenkostüm, die mit ihrem 18-jährigen Sohn auch das mittelalterliche Schifffahrtsmuseum besuchen will.
Sie sei froh, dass die Esten sogar fließend englisch gelernt hätten. "Finnisch und Estnisch sind verwandte Sprachen, deshalb habe ich bei früheren Besuchen in Estland finnisch gesprochen. Leider gibt es Worte, die ähnlich klingen, aber sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, da habe ich mich oft blamiert."
Tallinn setzt auf Tourismus
Mehr als drei Millionen Finnen landen Jahr für Jahr zum Einkauf in Tallinn an und setzen viele Milliarden Euro in der Baltenrepublik um. Darauf habe die Hafenverwaltung gehofft, erklärt Sven Ratassepp, als sie den einstigen Industriehafen aus der Sowjetzeit in einen modernen Komplex aus Licht durchfluteten Abfertigungshallen mit vier Anlegestellen umgebaut habe.
Schon im Sozialismus gab es eine Fähre. Damals besuchten aber nicht mehr als 100.000 Finnen pro Jahr die Sowjetrepublik Estland. Seit der Unabhängigkeit dürfen sich auch die Esten frei bewegen, deshalb setzte die Hafenverwaltung auf den Tourismus. "Unser Hafen liegt günstig", sagt Sven Ratassepp, "unterhalb der Altstadt. Und er hat Tradition. Im Mittelalter wurde hier zuerst Salz aus Portugal nach Russland umgeschlagen, bevor rundherum die einstige Hansestadt Reval, unser heutiges Tallinn aus dem Nichts aufgebaut worden ist."
Schlechtes Image durch alkoholisierte Finnen
Eigens für die finnischen Touristen wurde im Hafen ein zweistöckiger Basar eröffnet, in dem einfach alles zu haben ist. Auf dem Wollmarkt an der alten Stadtmauer decken sie sich auch im Sommer mit handgestrickten Jacken, Mützen oder Handschuhen ein. Beliebt sind die Restaurants, die mit deftiger Küche zu billigen Preisen locken. Der Kellner Sergej zählt auf, was seine finnischen Gäste lieben: Das Bier solle kalt sein, die Fleischportion groß und alles müsse schnell gehen. "Vor allem trinken die Finnen Bier und Wodka, viel Bier und viel Wodka", klagt Sergej. "Jeden Tag hab ich mit Betrunkenen zu tun, das ist schwer."
Die Geschichten von den "saufenden Finnen" hätten nicht nur in Tallinn die Runde gemacht, sondern der estnischen Hauptstadt auch außerhalb ein schlechtes Image beschert. Sogar Touristen aus anderen Ländern wurden verschreckt, sagt die Reisemanagerin Mari-Liis Rüütsalu. Aber zum Glück seien die Medien der Tourismusbranche zu Hilfe gekommen. Denn über den so genannten "Sauftourismus" sei auch in Finnland berichtet worden. Daraufhin habe sich das Benehmen gebessert. "Eine Rolle spielt aber sicher auch die globale Wirtschaftskrise", meint Mari-Liis Rüütsalu. "Viele, die nur trinken wollen, haben heute kein Geld mehr und bleiben einfach weg."
Sogar noch bei Kunstlicht herrscht im Hafen von Tallinn Hochbetrieb. Bis zum späten Abend bringen die Fähren die finnischen Tagestouristen zurück nach Helsinki - eine Fähre jede Stunde. Schon am nächsten Morgen werden die ersten neuen Besucher aus Finnland gelandet sein.
Autorin: Birgit Johannsmeier
Redaktion: Andreas Ziemons