Türkische Wirtschaft: 100 Tage "Rationalität"?
7. September 2023"Wir glauben aus vollem Herzen, dass wir die Inflation besiegen werden." Das sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 5. September nach einem Treffen mit seinen Ministern.
Die Wirtschaft des Landes ist seit Jahren in der Krise. Zu den wichtigsten Themen der Regierung gehört die Bekämpfung der hohen Inflation. Die Geldentwertung lag im August 2023 bei fast 60 Prozent. Das Ziel für die nächsten zwei Jahre lautet: Die Inflationsrate soll einstellig werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat Präsident Erdogan einen in internationalen Kreisen bekannten und angesehenen Wirtschaftsexperten zurück in die Politik geholt: Mehmet Simsek.
Für Simsek ist sein neuer Job als Finanzminister eigentlich sein alter. Er hatte dieses Amt bereits zwischen 2009-2015 inne, also in den liberaleren Zeiten der AKP-Regierung. Dann ging er in den Ruhestand.
Es kostete Erdogan viel Überzeugungsarbeit, Simsek erneut zur Übernahme des Finanzministeriums zu bewegen. Der hatte das Angebot zunächst abgelehnt und gesagt, er habe nicht vor, in die aktive Politik zurückzukehren.
Simsek ist seit dem 3. Juni dieses Jahres also erneut Finanzminister und hat inzwischen 100 Tage im Amt hinter sich. Beim Amtsantritt sagte er: "Die Türkei hat keine andere Option, als zur Rationalität zurückzukehren". Das ist eine direkte Kritik an der bisherigen Wirtschaftspolitik der Regierung - und eine indirekte an Präsident Erdogan.
Simsek verfolgt seitdem vor allem zwei Ziele: Zum einen will er die Politik der Zinssenkungen aufgeben - obwohl sich Erdogan immer für sinkende Zinsen ausgesprochen hat. Zum anderen will er die türkische Wirtschaft wieder vertrauenswürdig machen.
Unter Simsek wurde eine renommierte Wirtschaftsexpertin zur Präsidentin der Zentralbank ernannt: Hafize Gaye Erkan ist an europäischen und amerikanischen Finanzmärkten bekannt. Sie war jahrelang stellvertretende Geschäftsführerin bei der US-Bank First Republic und neun Jahre als leitende Analystin bei Goldman Sachs tätig.
Eine Verbesserung der Risikowahrnehmung
"Wir haben uns damit abgefunden", sagte Erdogan mit Hinweis auf die neue Ausrichtung des neuen Managements. Mit dem Einverständnis des Präsidenten fing man an, die Zinsen zu erhöhen - was seit September 2021 nicht mehr der Fall war.
Zuletzt wurde der Leitzins auf 25 Prozent erhöht. An den Finanzmärkten wurde das positiv aufgenommen. Trotzdem sagen viele Experten, dass man einen Leitzins von 40 Prozent bräuchte, um die Inflation wirksam zu bekämpfen - was Erdogan höchstwahrscheinlich nicht erlauben wird.
Währenddessen sagte Simsek in den sozialen Medien, dass das neue Finanzmanagement noch Zeit brauche. Er und Zentralbankchefin Erkan haben sich mehrfach mit ausländischen Investoren getroffen - vor allem aus Europa, den USA und arabischen Ländern.
All das scheint dazu beigetragen zu haben, dass die Türkei ihr finanzpolitisches Image etwas verbessern konnte. Seit der Präsidentschaftswahl am 28. Mai hat sich der Preis für Versicherungen gegen Zahlungsausfall (Credit Default Swaps - CDS) der Türkei fast halbiert. Zudem wurden in den ersten 100 Tagen auch Schritte unternommen, um Mittelstand und Exportfirmen den Zugang zu Krediten zu erleichtern.
Dauerhaft abnehmende Kaufkraft
Gerade Mittelständler und Kleinunternehmer klagen über schwere Zeiten.
Serkan Adigüzel ist Betreiber eines Ladens in Istanbul. Der 41-jährige hat den Eindruck, dass es mit der Wirtschaft eher bergab geht als bergauf. "Ich sehe keine Verbesserung in der Wirtschaft", so Adigüzel. Alles werde immer teurer - genauso wie früher.
"Wir waren nicht zufrieden mit dem früheren Finanzminister, aber auch in der Simsek-Zeit wird alles zunehmend teurer, unter anderem Treibstoff und Nahrungsmittel. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Wirtschaft so verbessern kann. Sowohl unsere Kaufkraft als auch die der Kunden hat stark abgenommen. Wir können nicht einmal den morgigen Tag planen, geschweige denn nächstes Jahr", erklärt Adigüzel.
Selma Demir teilt diese Ansicht. Die 47-Jährige arbeitet bei einer privaten Firma in Istanbul. "Unsere Kaufkraft nimmt jeden Tag ab. Als Werktätige kämpfen wir um unsere Lebenshaltung. Ich habe nicht viel Hoffnung für die Zukunft", so Demir.
Besser als früher, aber…
Auch Finanzexperten bemängeln die Fortschritte der Regierung in den ersten 100 Tagen.
Aziz Konukman ist Wirtschaftswissenschaftler an der Haci-Bayram-Veli-Universität in Ankara. Er lobt die Schritte von Simseks Team, aber kritisiert die fehlende Transparenz. Man habe früher falsche politische Entscheidungen getroffen, die auf Erdogans Anweisungen basierten, und es sei nicht so einfach, diese umzukehren. "Die Fehler der Vergangenheit sind nicht hundertprozentig aufgehoben. Von daher ist die Rückkehr zur rationalen Politik nur heiße Luft", so Konukman.
Konukman weist darauf hin, dass die Ausgaben vom Erdogans Palast vom offiziellen Bericht für den öffentlichen Sektor ausgeschlossen sind: "Wir können heute nicht von einer transparenten und umfangreichen Wirtschaftspolitik sprechen", bemängelt Konukman.
Als Simsek sein Amt übernahm, lag die Inflation bei 38 Prozent. Zuletzt, im August, lag sie laut offiziellen Angaben bei 58 Prozent. Nach Berechnungen der Unabhängigen Forschungsgruppe Inflation (Inflation Research Group - ENAG) liegt die Geldentwertung tatsächlich aber bei 128 Prozent.
Viele Experten werfen den türkischen Behörden vor, die Zahlen zu beschönigen. Unterdessen gibt die türkische Währung weiter stark nach. Kurz vor der Wahl im Mai musste man für einen Euro 21,50 Lira bezahlen. Direkt nach der Wahl verlor die türkische Währung rasch an Wert. Heute kostet ein Euro fast 29 Lira.
Der entscheidende Faktor: Die politische Führung
Simsek persönlich könne die Probleme der türkischen Wirtschaft nicht lösen, sagt Ceyhun Elgin, Wirtschaftswissenschaftler an der Bogazici-Universität in Istanbul. "Ja, unter Simsek werden Entscheidungen getroffen, die mit den Erwartungen des Marktes und der wissenschaftlichen Theorien übereinstimmen. Es ist auch klar, dass das Management der Zentralbank mehr Qualität hat als früher. Aber es herrscht weiter Unklarheit und den Preis für die Inflation zahlen die normalen Bürger", so Elgin.
Ohne politische und juristische Reformen könne man das Vertrauen im In- und Ausland nicht zurückgewinnen, sagt Elgin. "Aber die politische Führung der Türkei scheint von diesem Punkt weit entfernt zu sein."