Kanzlerin Merkel besucht erstmals Auschwitz
6. Dezember 2019"Eigentlich gebietet es dieser Ort zu schweigen. Aber ich bin sicher, dass der deutsche Bundeskanzler hier nicht schweigen darf." So begann Helmut Schmidt an einem trüben Novembertag 1977 seine Rede in Auschwitz. Es war der erste Besuch eines Bundeskanzlers und hochrangigen deutschen Politikers in dem ehemaligen deutschen Vernichtungslager, in dem bis 1945 bis zu 1,5 Millionen Menschen getötet wurden. Und der damals 58-jährige Schmidt, der selbst im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldat war, wandte sich an die Polen, "die am meisten zu leiden hatten", sprach von Verantwortung und Schuld, von der Erkenntnis, "dass Politik der moralischen Grundlage und der sittlichen Orientierung bedarf". Das polnische Staatsfernsehen übertrug live.
"Vermintes Terrain"
Auschwitz - das ist für einen deutschen Regierungschef immer ein schwerer, auch heikler Gang. Zwölf Jahre nach Schmidt kam dessen Nachfolger Helmut Kohl an den Schreckensort. Wieder war es November. Es waren jene Novembertage 1989, in denen dann in Berlin die Mauer fiel und Deutschland in Freuden taumelte. Kohl unterbrach in Warschau seinen Polen-Besuch, reiste nach Bonn und Berlin, dann kehrte er zurück, unter anderem nach Auschwitz. Er wollte dorthin.
Tage vorher, am 6. November, hatte er als Parteichef im CDU-Bundesvorstand von dem "unheimlich verminten Terrain" gesprochen. Schon damals nannte Kohl ein ihm wichtiges Vorhaben: Es sei "einfach überfällig, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Weise versucht, in Auschwitz eine Gedenkstätte zu begründen". Wegen der Zeitnot und der Unbilden des Novemberwetters - zeitweise reiste die ganze Delegation in Bussen - wurde es ein kurzer Besuch.
Kohls Erschütterung
Deutsche Zeitungen schrieben vom Besuch im "Geschwindschritt", "wie eine Pflichtübung", eine Visite ohne Rede. Aber das blendet aus, wie Kohl den Besuch wahrnahm. Wenige Tage später sprach er - wieder im CDU-Vorstand - von "diesem ganz und gar die Sprache verschlagenden Bild in Auschwitz, das man körperlich in sich aufnehmen muss". Er kam ins Erzählen von der Rampe in Birkenau, dem Ort der "Selektion", an dem Nazi-Schergen über sofortigen Tod oder Überleben entschieden.
Kohl: "Ein Mann erzählte, wie er da stand und seine Mutter und seine Frau zum letzten Mal gesehen hat.Es ist ein Unterschied, ob man das theoretisch bespricht oder ob man mit dem, der das erlebt hat, zusammensteht. Das ist ein Ort, an dem man keine Reden halten kann."
Kohl hatte auch die Todeszelle des polnischen Franziskaners Maximilian Kolbe besucht, "man braucht da keinen Führer, um zu begreifen, dass hier Unvorstellbares Wirklichkeit geworden ist". Kolbe war 1941 in Auschwitz anstelle eines polnischen Familienvaters freiwillig in den Tod gegangen, um diesem das Leben zu retten.
Anderntags sprach er im Bundestag über "das dunkelste, das schrecklichste Kapitel in der deutschen Geschichte", das "in Auschwitz und Birkenau geschrieben" wurde. Und er trug seinen Eintrag ins Besucherbuch vor, über das "unsagbare Leid", das den Angehörigen vieler Völker, insbesondere den europäischen Juden, "hier in deutschem Namen" zugefügt worden sei. Er nannte explizit die Juden, die sein Vorgänger noch nicht erwähnte. "Hier geloben wir erneut, alles zu tun, damit das Leben, die Würde, das Recht und die Freiheit jedes Menschen, gleich, zu welchem Gott er sich bekennt, welchem Volk er angehört und welcher Abstammung er ist, auf dieser Erde unverletzt bleiben".
Kohl kehrte sechs Jahre später zurück nach Auschwitz, in Juli-Tagen 1995. Gut vier Wochen hatte er Jerusalem besucht. Mit dem damaligen polnischen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski (1922-2015), der von September 1940 bis April 1941 selbst im KZ Auschwitz litt, legte er am internationalen Denkmal in Birkenau einen Kranz nieder.
Und Kohl schrieb erneut ins Besucherbuch: "Das Leiden und das Sterben, der Schmerz und die Tränen dieses Ortes machen uns stumm. Gemeinsames Erinnern, gemeinsame Trauer und unser Wille zum Miteinander - das ist unsere Hoffnung, das ist unser Weg."
Hilfe für den Erhalt des Gedenkortes
Und nun Merkel. Nach gut 24 Jahren wieder eine deutsche Regierungschefin in Auschwitz. Sie ist die erste, die nach Auschwitz und nicht noch nach Warschau reist. In Auschwitz wird sie vom polnischen Premier Mateusz Morawiecki sowie einem ehemaligen KZ-Häftling und Vertretern jüdischer Organisationen begleitet.
Offizieller Anlass ist das zehnjährige Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau, die sich für den Erhalt der Gedenkstätte auf dem Gelände des früheren KZ einsetzt. Die Gründung dieser Stiftung hatte noch Bartoszewski angestoßen. Nun hat Merkel eine feste Zusage dabei: Deutschland wird die Stiftung Auschwitz-Birkenau mit 60 Millionen Euro unterstützen. Hintergrund ist, dass der Finanzstock der Stiftung von 2009 angesichts der seit Jahren geringen Zinserträge nicht ausreicht. Dafür soll das weitere Kapital sorgen.
Die bewusste Solidarität zum Judentum und die mahnende Erinnerung an die NS-Gräuel gehören zu Merkels Kanzlerschaft. Fünf Mal war sie in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, 2009 war sie - mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama - im KZ Buchenwald, 2013 besuchte sie mit Überlebenden das KZ Dachau, 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung dieses KZ erneut. Bislang kam sie noch nie nach Auschwitz.
Nach Halle
Merkel wird - wie Schmidt, anders als Kohl - reden in Auschwitz, im Vernichtungslager Birkenau. Der offizielle Rahmen ist ein Festakt zum zehnten Jahrestag der Stiftung in der sogenannten "Zentralsauna", nur wenige Gehminuten von der Selektionsrampe entfernt. Vor dieser Feier wird sie im Stammlager Auschwitz an der sogenannten Schwarzen Wand gedenken. Diese Hinrichtungsstätte ist gerade vielen Polen ein sehr bedeutender, emotionaler Ort der Erinnerung. Und nach dem Festakt steht für die Kanzlerin ein Gang durch die Reste des Vernichtungslagers Birkenau an.
2013 beim Besuch im KZ Dachau sprach Merkel von einem "beispiellos furchtbaren und unmenschlichen Kapitel unserer deutschen Geschichte", von der "bleibenden Verantwortung" und der eindrücklichen Mahnung: "Orte wie dieser mahnen jeden Einzelnen mitzuhelfen, dass so etwas nie wieder geschieht, dass nie wieder gleichgültig, achselzuckend oder sogar Beifall klatschend zugelassen wird, wenn Menschen benachteiligt, bedrängt, verfolgt werden und sie am Ende schutzlos um Leib und Leben fürchten müssen."
Die Stimmung und die politische Lage haben sich seitdem verändert in Deutschland. Zuletzt starben vor zwei Monaten zwei Menschen durch einen Rechtsextremisten, der eine vollbesetzte Synagoge in Halle stürmen wollte. Nur glückliche Umstände verhinderten ein schlimmeres Blutbad. Der Besuch Merkels jetzt in Auschwitz sei ein "besonders wichtiges Signal" der Solidarität mit den Überlebenden der Gräuel, erklärt das Internationale Auschwitz-Komitee.