Warum immer wieder Haiti?
19. August 2021Nach dem schweren Erdbeben in Haiti zählen die Behörden mittlerweile etwa 2000 Todesopfer und 10.000 Verletzte. 30.000 Familien sind obdachlos. Der Erdstoß auf der südwestlichen Tiburon-Halbinsel reiht sich ein in eine lange Liste von Katastrophen, die das Land im Westteil der Karibikinsel Hispaniola heimgesucht haben.
Eine lange Reihe von Katastrophen
"Wenn wir uns den internationalen Kontext angucken, steht Haiti immer auf der Liste der Länder, die besonders risikoanfällig sind", sagt Daniela Simm, Regionalleiterin Lateinamerika der Diakonie-Katastrophenhilfe. "Es sind ja nicht nur Erdbeben. Über Haiti gehen auch viele Hurrikane hinweg. Und zusätzlich ist das Land oft durch El Niño von Dürre betroffen."
Zu den schwersten Naturkatastrophen der jüngeren Vergangenheit gehört das verheerende Erdbeben von 2010, bei dem nach offiziellen Angaben 316.000 Menschen ihr Leben verloren, ähnlich viele wurden verletzt. Etwa 1,5 Millionen - also rund 14 Prozent der Bevölkerung - wurden obdachlos.
Obwohl das Beben mit 7,0 auf der Richterskala etwas schwächer war als das jetzige (7,2) waren die Auswirkungen ungleich schwerer. Damals lag das Epizentrum am Rand des Ballungsraum der Hauptstadt Port-au-Prince, in dem etwa ein Viertel der - damals zehn Millionen - Haitianer lebte.
Besonders schlimme Auswirkungen in Haiti
2016 dann verloren mehr als 500 Menschen durch Hurrikan Matthew ihr Leben und 35.000 ihre Wohnung. Etwa 1,4 Millionen Menschen brauchten akute Notfallhilfe. Anhand der Extremwetterereignisse von 2000 bis 2019 listet Germanwatch in seinem "Globalen Klima-Risiko-Index 2021" Haiti auf Rang 3 hinter der benachbarten Insel Puerto Rico und Myanmar.
Schwere Tropenstürme, manche von ihnen Hurrikane, treffen Haiti praktisch jedes Jahr. Auch in diesen Tagen - keine Woche nach dem jüngsten Erdbeben - bringt der Tropensturm "Grace" starke Regenfälle in die verwüstete Region und stürzt die Menschen in noch größere Gefahr.
Haiti - auch eine politische Katastrophe
Doch es ist nicht nur die Serie von Naturkatastrophen, die das Land von einer Krise in die nächste stürzt. Wie die meisten Länder Lateinamerikas hat auch Haiti blutige Diktaturen hinter sich. Doch auch nach dem Ende des Duvalier-Regimes 1986 hat das Land keinen Weg zur Rechtsstaatlichkeit gefunden.
Noch 2004 spielten sich nach einem Aufstand gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide bürgerkriegsähnliche Szenen ab. Um die Lage zu stabilisieren, schickte die UNO-Blauhelme ins Land, die bis 2017 blieben. Doch eine stabile Demokratie hat sich in Haiti bis heute nicht entwickelt. Immer wieder eskalieren Proteste, zuletzt im Frühjahr 2021. Politische Gegner bekämpfen sich mitunter gewaltsam und kriminelle Banden mischen dabei kräftig mit.
Krise im Machtvakuum
So sehen Beobachter in der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse Anfang Juli kein isoliertes Ereignis, sondern das Resultat einer innenpolitischen Dauerkrise. Wie fragil Haitis Rechtsstaat ist, äußerte sich auch im folgenden Machtkampf. Von den drei Anwärtern auf die Interims-Präsidentschaft setzte sich letztlich der designierte, aber noch nicht vereidigte Ministerpräsident Ariel Henry durch.
Nun befürchtet der private US-Nachrichtendienst Stratfor, dass Henry die humanitäre Krise nutzen könnte, um seine Macht zu konsolidieren: "Henry wird wahrscheinlich das Erdbeben nutzen, um die Wahlen zu verschieben und ausländische Hilfen so koordinieren, dass sie seinen Interessen dienen."
Private Hilfsorganisationen, erklärt die Diakonie-Referentin Simm, würden sich gegen politische Einflussnahme nach Kräften wehren: "Als Nichtregierungsorganisation arbeiten wir mit lokalen Nichtregierungspartnern zusammen. Das heißt also, wir koordinieren mit Regierungsstellen wie dem örtlichen Zivilschutz. Aber wir finanzieren keine örtlichen Regierungsstrukturen." Zwischenstaatliche Finanzhilfen dagegen laufen oft von Regierung zu Regierung.
Schwacher Staat erschwert Hilfe
Klar ist aber, dass Haiti auf Hilfe von außen angewiesen ist. Das Land ist das ärmste westlich des Atlantiks. Auch in Sachen Bildung und Erziehung bildet es das Schlusslicht in Amerika. Der "Index der menschlichen Entwicklung" (Human Development Index) der Vereinten Nationen liegt für Haiti kaum über dem Niveau der Sahel-Zone in Afrika.
Hinzu kommt eine hohe Kriminalitätsrate. Unter der teils prekären Sicherheitslage leiden die Haitianer schon in "normalen" Zeiten. In humanitären Krisen erschwere sie auch Hilfseinsätze, sagt Simm: "Wir sehen uns öfter in der Schwierigkeit, Hilfsgüter von Port-au-Prince in die Regionen, gerade in den Süden zu transportieren, weil die Bandenkriminalität bestimmte Gebiete in Port-au-Prince unpassierbar macht."
Lichtblicke im Chaos
Wie schwach der Staat in Haiti ist, zeigt sich auch in den Wiederaufbauphasen. Noch zwei Jahre nach dem Erdbeben 2010 berichtete die Hilfsorganisation Oxfam, dass mehr als eine halbe Million Menschen in Zelten schlafen mussten, weil sie weiterhin obdachlos waren.
Umso erfreulicher, meint Simm, sei zu sehen, wenn zumindest die Bemühungen der eigenen Arbeit Früchte tragen: In Camp-Perrin, einem der von diesem Erdbeben am stärksten betroffenen Orte, habe die Diakonie Katastrophenhilfe nach dem Sturm Matthew 2016 den Bau von sturm- und erdbebensicheren Häusern unterstützt. "Da haben wir jetzt gesehen: Erstens stehen die Häuser noch und haben keine Risse. Und zusätzlich haben sie Zuflucht geboten für andere Familien, deren Häuser zerstört oder beschädigt wurden."