Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther"
9. Oktober 2018"Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau."
Möglicherweise hieß diese Großmutter des Vaters wirklich Esther, Katja Petrowskajas Urgroßmutter, die 1941 allein in der Wohnung zurückblieb, als der Rest der Familie vor der deutschen Armee aus Kiew floh. Sie war Babuschka für den Vater, Mutter für die Großeltern.
Jedenfalls machte sich "Vielleicht Esther", wie sie in Petrowskajas Roman durchgängig heißt, obwohl sie kaum laufen kann, auf den Weg zum Sammelplatz an den Friedhöfen. Die Deutschen sind da, und mit ihnen ist wieder Ordnung eingezogen. Exakte Anweisungen, "Deutlich, klar und verständlich". Das imponiert ihr.
Vielleicht war es auch ein "sprachlicher Irrtum", weshalb sich Vielleicht Esther auf den Weg machte, obwohl der Hausmeister die gehbehinderte alte Frau gar nicht registriert hatte.
"Viele jüdische Alte waren stolz auf ihr Deutsch, und als die Deutschen kamen, dachten sie möglicherweise, trotz all dem was da schon erzählt wurde, was durch die Luft flog und nicht mehr als Lüge bezeichnet werden konnte, dass sie, gerade sie, die nächsten Verwandten der Okkupationstruppen seien, ausgestattet mit dem besonderen Recht derer, für die das Wort alles ist."
Für die Deutschen aber gibt es keine sprachliche Nähe, wenn es um diejenigen geht, für die sie nur das abwertende Wort Żyd haben. 33.000 Juden wurden in Babij Jar zusammengetrieben und erschossen.
Das Familienmosaik neu zusammensetzen
Katja Petrowskaja wuchs in Kiew auf, studierte Literaturwissenschaft und Slawistik in Estland, erhielt Stipendien, um sich an der Stanford Universität weiterzubilden und in Moskau zu promovieren. Seit 1999 lebt sie in Berlin. Sie arbeitete als Journalistin für russische und deutsche Medien, unter anderen die taz, NZZ und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Für sie ist das Wort alles. Sie schreibt auf Deutsch, die "Sprache der Stummen", wie sie wörtlich übersetzt auf Russisch heißt. Vielleicht ermögliche ihr gerade diese Sprache und die Distanz zum Ukrainischen und Russischen, vermutet sie selber, den schmerzhaften Schicksalen der Menschen ihrer Familie nachzugehen.
Wenn es in diesen "Geschichten" so etwas wie einen roten Faden gibt, dann ist es die Suche nach ihrer Familiengeschichte, die Petrowskaja durch Russland, Polen, die Ukraine und Deutschland reisen lässt. Nach Kiew, Babij Jar, Warschau, Mauthausen und in ihre eigene Jugend, um Verwandte aufzuspüren, die im wesentlichen durch ihr Judentum verbunden sind. Und durch ihre Verbissenheit, wenigstens so lange zu überleben, bis sie unbekannte Verwandte gefunden haben. Dass schon über sieben Generationen hinweg die meisten von ihnen in selbst gegründeten Schulen Taubstumme unterrichtet haben oder noch dort lehren, ist eine weitere, seltsame Verbindung.
Vom Grauen erzählen in einer schwebenden Sprache
Katja Petrowskaja hat in dieser Tradition die Stummheit in ihrer Familie aufgebrochen. Sie fand in einer leichten, schwebenden Sprache den goldenen Schlüssel, um ihr persönliches Familienmosaik zu entwerfen. Alles, was sie erzählt, beruht auf Tatsachen, ist vor Ort und in Dokumenten recherchiert - und wird durch die Kraft des Literarischen doch zu etwas fast Sagenhaftem.
Dass sie die Achilles-Sage in die 39 Abschnitte von "Vielleicht Esther" einwebt, um die eigene Verletzlichkeit bei dieser Recherche anzudeuten, verstärkt diesen Eindruck. Es gelingt ihr, sich nicht von der historischen Last ihres Stoffes erdrücken zu lassen. Im Gegenteil, sie schafft das paradoxe Kunststück, von dem unbeschreiblichen Grauen des vergangenen 20. Jahrhunderts mit poetischer Schönheit und sehr versöhnlich zu erzählen.
Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther. Geschichten" (2014), Suhrkamp Verlag
Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren. Für den Auszug aus dem 5. Kapitel ihres späteren Romans, den sie als Erzählung "Vielleicht Esther" präsentiert hat, wurde sie 2013 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Hauptpreis ausgezeichnet.