EU ändert Regeln für Flüchtlinge
4. März 2022Es ist gerade einmal sechs Wochen her, da begann Polen an seiner Grenze zu Belarus mit dem Bau einer Mauer. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die über Belarus aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan in die EU gelangen wollten, sollen abgeschreckt werden.
Das Drama um einige Tausend Menschen, die in Eiseskälte im Grenzgebiet ausharren mussten und weder nach Polen einreisen noch nach Belarus zurück dürften, hatte wochenlang Schlagzeilen gemacht.
Und nun das: Vor acht Tagen hat Polen, wie alle übrigen EU-Staaten, seine Grenzen für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine weit geöffnet. Jeder und jede soll aufgenommen werden, so lautet das Versprechen der Präsident der EU-Kommission Ursula von der Leyen.
"Eine völlig andere Antwort"
"Was für ein Unterschied!", meint Catherine Woollard, Direktorin des Europäischen Rates für Flüchtlinge und Exil (ECRE) in Brüssel. Woollard kümmert sich mit ihrem Zusammenschluss von Dutzenden Hilfsorganisationen seit vielen Jahren um Migrationspolitik.
Die aktuelle Krise ist mit bis zu vier Millionen erwarteten Flüchtlingen die größte, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erleben wird. "Die EU ist fähig, damit fertig zu werden. Sie war auch 2015 fähig, damit umzugehen, aber wir sehen heute eine völlig andere Antwort", so Flüchtlings-Expertin Woollard.
2015 kamen rund eine Million syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge über die Balkanroute nach Mitteleuropa. Über deren Verteilung geriet die EU in einen tiefen politischen Streit, der bis heute anhält.
Bei den Vertriebenen aus der Ukraine reagiert die EU bislang anders, freut sich Catherine Woollard. "Wir sind dankbar und hoffen, dass das anhält. Es ist ganz klar, dass eine kollektive Antwort auf diese riesige Zahl von Flüchtlingen die Situation einigermaßen beherrschbar macht."
Seltene Einstimmigkeit
Die für Migration zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson zeigte sich ebenfalls freudig überrascht, wie schnell sich die EU-Innenminister auf Hilfen für die Menschen, die aus der Ukraine kommen, einigen konnten. Einstimmigkeit in der Migrationspolitik hat es seit Jahren nicht geben.
"Ich bin stolz, Europäerin zu sein. Ich bin stolz auf die Solidarität, die einzelne Menschen zeigen, die lokalen Behörden, die Grenzschützer, die Hilfsorganisationen, die Regierungen", sagte Johansson nachdem die 27 Ministerinnen und Minister beschlossen hatten, allen Flüchtlingen aus der Ukraine unbürokratisch ein Aufenthaltsrecht von mindestens zwölf Monaten in jedem Staat der EU zu gewähren.
Außerdem erhalten die Flüchtlinge Unterkunft, medizinische Versorgung, Schulen für die Kinder und das Recht zu arbeiten. Sie brauchen kein langwieriges Asylverfahren zu durchlaufen, wie etwa Migranten, die es in viel kleinerer Zahl nach Italien, Griechenland oder Spanien per Boot schaffen.
Doppelte Standards
Ohne die derzeitige Aufnahmebereitschaft kritisieren zu wollen, so Catherine Woollard vom Europäischen Flüchtlingsrat, gebe es natürlich "peinliche Doppelstandards" in der Flüchtlingspolitik, besonders deutlich sichtbar in Polen oder Ungarn, das seine Grenze ebenfalls mit einem starken Grenzzaun abgeriegelt hat.
"Unglücklicherweise ist es normal, dass die Migrations- und Asylpolitik von Faktoren wie Rasse, Religion oder Herkunftsland abhängt. Es gibt Vorurteile in dem System. Das muss man auf lange Sicht anpacken", meint Woollard im DW-Gespräch. "Aufnahmebereitschaft sollte vorhanden sein, egal wo und wie die Menschen in Europa ankommen."
Studenten müssen EU verlassen
Die EU hilft Staaten in der Nachbarschaft der Ukraine jetzt mit zusätzlichen Finanzmitteln aus einem Notfallfonds, besonders Rumänien und Moldau brauchen die Hilfen. Außerdem soll die Regel außer Kraft gesetzt werden, dass das Land der ersten Einreise für den Flüchtling zuständig ist.
Die Menschen aus der Ukraine können weiter in andere EU-Staaten reisen, auch wenn sie den eigentlich vorgeschriebenen biometrischen Reisepass nicht haben. Für Angehörige aus Dritt-Staaten, die langfristige Aufenthaltsgenehmigungen für die Ukraine haben, zum Bespiel Studenten aus Afrika, gelten diese Regeln allerdings nicht.
"Wir helfen ihnen, aus der Ukraine herauszukommen. Alle sind zunächst willkommen in Europa und werden mit Unterkunft und Nahrung versorgt. Dann kontaktieren wir die Heimatländer", sagte EU-Kommissarin Johansson zum geplanten Umgang mit Studenten. "Die werden dann mit Flugzeugen kommen, sie einsammeln und nach Hause bringen."
2022 ist nicht 2015
Die neue Solidarität und der "Paradigmenwechsel" in der Flüchtlingspolitik, so Johansson, könnten sich auch auf die seit Jahren umstrittene "toxische" Migrationspolitik der EU im weiteren Sinne auswirken. Warum geht 2022, was 2015 nicht ging? Dies sei die entscheidende Frage.
Deutschlands sozialdemokratische Innenministerin Nancy Faeser hat keine Antwort parat, aber eine Vermutung: "Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist, dass jetzt der Krieg sehr nahe ist. Das ist mitten in Europa. Da ist einfach die Betroffenheit noch einmal andere, wenn man sieht, was da passiert."
Die Gesetzesentwürfe zur Reform der Migrations- und Asylpolitik, die schon lange vor dem Krieg in der Ukraine auf dem Tisch lagen, sollen jetzt schnell voran gebracht werden.
"Alle Ministerinnen und Minister am Tisch sagen, dass wir uns schneller bewegen müssen als bisher. Oft ist es ja so, dass eine Krise Blockaden lösen kann. Wir müssen uns einigen. Wir müssen Fortschritte erzielen", nannte der französische Innenminister Gérald Darmanin als politische Marschrichtung bis Ende Juni. Darmanin ist derzeit Vorsitzender der europäischen Innenminister.
"So soll es sein"
Die schnelle Aufnahme von Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine, die vor den russischen Angreifern fliehen, ist für die EU auch im eigenen Interesse, analysiert Catherine Woollard vom Europäischen Flüchtlingsrat. "Es muss weitergehen. Panik und Lähmung in der EU würden nur Wladimir Putin in die Hände spielen. Wir müssen um jeden Preis eine politische Krise verhindern, wie wir sie nach 2015 und 2016 erlebt haben."
Damals spaltete sich die EU in Staaten, die Migranten völlig ablehnten und solche, die welche aufnahmen. Es wurde heftig über sogenannte "Obergrenzen" gestritten. Nach und nach setzte sich aber eine allgemeine Haltung der Abschottung und Abschreckung durch. Die Asylverfahren sollten an die Grenzen verlagert werden, was bis heute nicht gelungen ist.
Woollards Bilanz zum Umgang mit dem Flüchtlingsstrom 2022 bisher: "Die Antwort ist angemessen und gemeinschaftlich, so wie es sein muss."