Keine Einreise für Au-pairs
18. Oktober 2020Der zweieinhalbjährige Jakob hat sich gerade ein Glas Wasser eingeschenkt und betrachtet stolz sein Werk. Plötzlich versucht er, das Wasser zurück in die Flasche zu gießen. Bevor Vater Oliver vom Küchentisch aufspringen kann, um seinen Sohn von dem Experiment abhalten, ergießt sich das Wasser bereits über die Arbeitsplatte der Kücheninsel, an der der kleine blonde Junge auf einem Stuhl steht. Für Jakob kein Problem. "Ich putze", ruft er fröhlich und kämpft eifrig mit einem rot-weiß karierten Küchentuch gegen die Flut.
"Lass ihn, ist ja nur Wasser", bremst Mutter Caroline ihren Mann. Der lässt sich seufzend zurück auf seinen Stuhl fallen um dann doch gleich wieder hektisch aufzuspringen. Jakobs Zwillingsbruder Jaron hat in der geräumigen Küche in einem Regal eine leere Bierflasche gefunden und wedelt damit herum. "Es ist schon einfacher geworden mit den Zwillingen", sagt Caroline lachend. Hin und wieder würden sie inzwischen auch friedlich zusammen spielen. "Aber sie machen leider keinen Mittagsschlaf mehr, obwohl sie morgens um fünf Uhr wach sind."
Den ganzen Tag im Einsatz, ohne Pause
Caroline und Oliver wirken erschöpft. Beide haben fordernde Berufe, die ihnen viel abverlangen. Abendtermine und Reisen gehören dazu. "Im März und April ist zwar viel ausgefallen", erzählt Caroline, "aber seit Mai arbeite ich praktisch im Akkord." Bis Ende September waren Beruf und Familie dennoch vereinbar, denn da war Diana noch da.
Ein Jahr lang lebte die junge Kolumbianerin als Au-pair mit der Familie in Berlin-Friedrichshain. Sie kümmerte sich mit um die Zwillinge und deren fünfeinhalbjährige Schwester Clara. Half bei der Wäsche und räumte die Wohnung mit auf. War vor allem immer flexibel verfügbar, auch wenn die Kinder krank wurden und nicht in die Kindertagesstätte gehen konnten.
Familienmitglied auf Zeit
Die Bezeichnung Au-pair kommt aus dem Französischen und heißt übersetzt "auf Gegenseitigkeit". 30 Stunden Kinderbetreuung und leichte Hausarbeiten pro Woche gegen ein eigenes Zimmer, Verpflegung, ein Taschengeld von 280 Euro pro Monat, Anspruch auf Urlaub und Freizeit und den Besuch eines Sprachkurses.
Junge Menschen finden das Angebot attraktiv, weil sie so Sprache und Kultur ihres Gastlandes intensiv kennenlernen können. Für die Gastfamilien ist es oft der einzige Weg, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie finanzieren zu können. Die Nachfrage wächst von beiden Seiten. 2019 kamen mehr als 15.000 Au-pairs nach Deutschland. Mehr als 9000 davon aus Ländern außerhalb der EU. Ganz oben auf der Liste: Kolumbien und Georgien, gefolgt von der Ukraine, Russland, Madagaskar, Simbabwe, Brasilien und Vietnam.
Kulturaustausch mit Langzeitfolgen
Sie und die Kinder würden Diana sehr vermissen, sagen Oliver und Caroline wehmütig. Auch wegen der kulturellen Bereicherung. "Sie hat für uns Spezialitäten aus ihrer Heimat gekocht, Clara spielerisch das Zählen auf spanisch beigebracht und mit meinem Mann oft über Politik diskutiert", erinnert sich Caroline. "Statt nach Kolumbien zu reisen, hatten wir das Land ein Stück weit bei uns zu Hause." Eine bleibende Erfahrung. Die Freundschaft zwischen Familien und ihren Au-pairs währt oft ein Leben lang.
Nach Dianas Abreise sollte eigentlich die 23-jährige Seheno aus Madagaskar bei der Berliner Familie einziehen. Doch wegen der Corona-Pandemie bekommt sie weder ein Visum noch darf sie derzeit nach Deutschland einreisen. Oliver hat dafür kein Verständnis. Das sei doch keine kurze Urlaubsreise, sondern ein langfristiger Aufenthalt, den man "sehr, sehr sicher und ohne Gefährdung für andere" organisieren könne. Die Kosten für Testungen, für eine Quarantäne-Zeit in einem Hotel - sie würden das, wenn nötig, alles bezahlen.
"Wir halten Kontakt und chatten regelmäßig mit Seheno", erzählt Caroline. "Sie ist wie wir sehr unglücklich über die Situation, will die Hoffnung aber nicht aufgeben. Sie macht einen Deutschkurs am Goethe-Institut und kümmert sich ansonsten um ihren vierjährigen Bruder." Ihr absagen will die Familie aber nicht. "Sie hat doch eine feste Zusage von uns."
Heiß umkämpft, auch illegal
So geduldig sind andere Familien nicht. Sie wüssten von Fällen, in denen Au-pairs über Frankreich in die EU eingereist und dann weiter nach Deutschland gefahren seien, berichtet Caroline. Heiß begehrt sind auch Au-pairs, deren Visum zwar ausläuft, die sich aber noch in Deutschland befinden. In den sozialen Medien bekommen sie finanziell attraktive Angebote, um sie zum Bleiben und Wechsel in eine andere Familie zu bewegen. Auch illegal.
Monika Supernok, Vizevorsitzende der Gütegemeinschaft Au-pair, erfährt laufend von solchen Geschichten. Dabei besteht ihre Arbeit vor allem darin, das Geschäft mit den jungen Menschen transparent zu halten und illegale Beschäftigungsverhältnisse zu minimieren. Seit Monaten kämpft Supernok für Ausnahmeregelungen bei der Einreise von Au-pairs. Hat Politiker angeschrieben und eine Online-Petition gestartet.
Ablehnung im Bundestag
Auch der Bundestag beschäftigte sich im September mit dem Thema. Die FDP beantragte, Einreisen von Au-pairs wieder möglich zu machen. Andere Oppositionsparteien unterstützten den Vorstoß, aber die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD wollten sich nicht bewegen. Supernok will trotzdem nicht aufgeben. Auf der Suche nach Ansatzpunkten hat sie die EU-Direktive 2016/801 entdeckt. Die regelt die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit.
Die Richtlinie wurde vom Bundesinnenministerium zwar in deutsches Recht umgesetzt, allerdings unter Auslassung von Freiwilligen und Au-pairs. Supernok findet das empörend. Studenten könnten auf Grundlage der Regelung auch in der Corona-Pandemie weiter nach Deutschland einreisen, aber Au-pairs werde das verwehrt. In Frankreich und Belgien sei das anders, die Länder hätten die EU-Direktive so umgesetzt, wie sie ursprünglich erlassen worden sei.
Bis zum Frühjahr durchschlagen
Angesichts der wieder steigenden Corona-Infektionszahlen macht sich Supernok allerdings keine Illusionen darüber, dass sich am deutschen Einreiseverbot kurzfristig etwas ändern könnte. "Das ist so schade, denn die jungen Leute werden ihr Auslandsjahr nicht nachholen können. Das macht man nach der Schule und nicht, wenn man schon in der Ausbildung steckt."
Auch Caroline und Oliver glauben nicht dran, dass Seheno in den nächsten Wochen von Madagaskar nach Berlin reisen darf. Lücken in der Betreuung überbrückt die Familie aktuell mit einer kostspieligen Babysitterin, Tochter Clara verbringt hin und wieder Zeit in Niedersachsen bei den Großeltern. "Ich hoffe, dass wir uns bis zum Frühjahr irgendwie durchschlagen können", sagt Caroline. In der Hoffnung, dass es dann eine Impfung gegen Covid-19 gibt und alles vielleicht wieder etwas besser wird.