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"Keine Flüchtlinge, das sind Migranten"

19. Februar 2011

Weltbekannt wurde Rupert Neudeck, als er sogenannte Boatpeople aus Vietnam rettete. Die Nordafrikaner, die jetzt in Booten nach Europa kommen, "kann man nicht einfach zurückschicken", fordert er im DW-WORLD.DE-Interview.

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Rupert Neudeck (Foto: picture alliance)
Cap-Anamur-Gründer Rupert NeudeckBild: picture alliance/ZB

DW-WORLD.DE: Sie haben zuletzt vor dem Hintergrund der Entwicklungen auf Lampedusa die deutsche Entwicklungspolitik kritisiert; sie habe die "Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre verschlafen". Was hätte sie denn tun müssen?

Rupert Neudeck: In Bezug auf das, was wir jetzt in Lampedusa erleben, ist es ganz typisch, was wir alles nicht erkannt haben: Wir sprechen immer noch von Flüchtlingen. Aber da sind 5000 Menschen, die überhaupt keine Flüchtlinge sind. Das sind Migranten! Das sind deshalb keine schlechteren Menschen, sie haben auch Anspruch auf ein Menschenrecht: nämlich das der Freizügigkeit, ihren Beruf auszusuchen, wo sie das können. Die Politik verschanzt sich hier hinter alten Gräben und alten Mauern, um nichts zu tun. Und das ist verhängnisvoll.

Aber was hätte die Politik denn tun müssen? Nur der Titel "Migrant" macht doch noch keinen Unterschied.

Doch, der Titel bedeutet sehr viel. Flüchtlinge sind etwas ganz anderes. Das sind Menschen, die man aufnehmen muss, weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden, denn dann können sie auch gerechterweise einen Asylantrag stellen.

Migranten auf Lampedusa (Foto: dpa)
"Diese jungen Menschen sind ausgebildete Leute"Bild: picture-alliance/dpa

Das Erste, was nun gefordert ist, ist Solidarität unter den europäischen Ländern. Genau das haben wir schmerzlich beklagt, als die europäischen Länder eine ähnliche Situation hatten: Im Kosovo-Krieg gab es auf einmal 53.000 Menschen, die versorgt werden mussten. Und Deutschland und Österreich haben alleine diese Last geschultert. Damals haben wir uns sehr darüber mokiert, dass Europa da nicht mitgemacht hat. Solidarität der europäischen Mächte ist etwas, das sehr wichtig ist. Gerade jetzt, da wir eine ganz spezifische Situation erleben! Wir haben alle mit großer Begeisterung und Bewunderung auf Tunesien und Ägypten geguckt. Und diese jungen Menschen sind ausgebildete Leute, die könnte man hier in Deutschland aufnehmen - wenn wir zum Beispiel eine Green Card hätten.

Sie haben sich lange mit dem Thema Migranten beschäftigt. Ihre Einschätzung: Wie werden die Massen an Menschen jetzt versuchen, Europa zu erreichen?

Die UN schätzen, dass in den nordafrikanischen Staaten 2,5 Millionen junge Menschen darauf warten, eine Bootspassage zum gelobten Kontinent Europa zu bekommen. In der Hafenstadt Nuadibu an der Westküste Afrikas sitzen 60.000 bis 70.000 junge Menschen, die genau darauf warten. Europa beginnt für sie auf Gran Canaria und Teneriffa.

Wir werden demnächst morgens aufwachen und die Nachrichten werden uns sagen, da ist ein riesiges Schiff mit 6000 jungen Migranten aus Afrika, das in Hamburg, Lübeck oder Rotterdam liegt. Dann wird die Notwendigkeit endlich klar: Wir können uns nicht darauf beschränken und sagen, hier ist unser Territorium, hier darf keiner rein. Wir müssen anfangen, dass Instrument der Entwicklungspolitik so wahrzunehmen, dass Wirtschaft dort in Bewegung kommt und dass Arbeitsplätze entstehen.

Die wesentliche Aufgabe der Bundesrepublik ist es also, die Menschen vor Ort zu fördern, so dass sie nicht flüchten müssen?

Ein Sonnenuntergang vor Strommasten (Foto: dpa)
Sonnenenergie aus Tunesien für Deutschland?Bild: PA/dpa

Das ist eine genuin europäische Aufgabe. Ägypten und Tunesien sind die Länder, die die Tyrannen jetzt vertrieben haben und die am nächsten zu Europa liegen. Wenn ich etwas zu sagen hätte in Brüssel, würde ich gemeinsam mit denen im Verbund mit den europäischen Staaten etwas machen. Dort kann etwas Großes entstehen - beispielsweise was die Verkehrs- und Energieinfrastrukturen angeht.

Man weiß schon seit langem, dass das die Länder sind, die aufgrund der großartigen Sonnensituation in der Lage wären, uns auch mit Energie zu versorgen. Das alles wäre etwas, was natürlich nicht heute oder morgen passieren kann. Deshalb sind diese jungen Leute ja so ungeduldig. Man kann sie jetzt nicht einfach zurückschicken und sagen, bei euch passiert aber in den nächsten fünf Jahren was. Nein, es muss jetzt eine Politik gemacht werden mit diesen Staaten zusammen, nicht nur von Deutschland, sondern auch von Europa.

Das Gespräch führte Günther Birkenstock.

Redaktion: Michael Borgers