Vom Muğam zum Orient-Pop
28. Mai 2012Die musikalischen Wurzeln Aserbaidschans liegen vor allem in der Türkei und im Iran. Noch heute ist die wichtigste Kunstmusik, der Jahrhunderte alte Maqam, in der gesamten Großregion Zentralasiens anzutreffen. Der Muğam, wie die aserbaidschanische Ausformung genannt wird, ist kein Massenphänomen, sondern war immer die Hofmusik der urbanen Eliten, vergleichbar der arabischen oder europäischen Klassik. Und noch heute ist er vor allem in intellektuellen Kreisen zuhause.
Während des russischen Kommunismus war diese Musik eine Zeit lang zugunsten von Arbeiter- und Bauernliedern verboten. Lokale Traditionen wurden, so weit möglich, ausgeblendet; sie auszurotten gelang indes nicht. Die poetischen Texte mussten den üblichen Jubelgesängen weichen. Doch die über Jahrhunderte gepflegte mündliche Überlieferung funktionierte weiterhin - obwohl die Notenschrift eingeführt wurde und mit ihr das Tonsystem des Westens, das den Vierteltönen des Orients damals nicht Rechnung tragen konnte.
Was ist Muğam?
Die tiefsten Regungen der menschlichen Seele in ihrer größten Vielfalt auszudrücken und Gefühlszustände zur Kunst zu erheben: Das ist die Idee hinter Muğam, der klassischen Improvisationsmusik aus Aserbaidschan. Diese Tradition existiert seit 700 Jahren und wird bis heute gepflegt. Ein Muğam ist ähnlich einer Tonart. In ihm wird festgelegt, welche Töne einer Tonleiter benutzt werden dürfen, aber auch welche musikalischen Phrasen und Verzierungen enthalten sind.
In der Regel wird ein Sänger -manchmal sind es auch mehrere - von der
Langhalslaute Tar, einer Geige und einer Rahmentrommel begleitet. Trotz vieler Vorgaben ist die Improvisation das Herzstück des Muğam. Der berühmteste Sänger Aserbaidschans ist der heute 54-jährige Alim Qasimov, der 1999 mit dem UNESCO-Musikpreis ausgezeichnet wurde. Qasimov beherrscht auch die uralte Volkskunst der Asiq, der ländlichen Barden und Geschichtenerzähler, die sich selber auf der Laute Saz begleiten.
Der Weg in die Moderne
Beiden Musikrichtungen gemeinsam ist ein recht hoher Anteil an Improvisation und spontanen Verzierungen durch die Sänger. Und wo Improvisation ins Spiel kommt, kann der Jazz nicht weit sein. Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Aserbaidschan eine sehr lebendige Jazzszene. Davor war Jazz unter Stalin ein Jahrzehnt lang verboten.
Der Jazz in Aserbaidschan nahm eine besondere Färbung an, weil er sowohl europäische und arabische Klassik mit einbrachte als auch die Mugham-Tradition. Man sprach daher auch von Mugham-Jazz. Vaqif Mustafa Zadeh war einer seiner führenden Vertreter, leider starb er 1979 mit nicht einmal 40 Jahren. Doch er hat eine Tochter hinterlassen, Azizah Mustafa Zadeh, die nicht nur eine würdige Nachfolgerin ist, sondern als ein Ausnahmetalent gelten muss.
Die Pianistin und Sängerin bindet die Improvisationstraditionen ihrer Heimat gekonnt in ihre Jazz- und Klassikinterpretationen ein. In atemberaubendem Tempo gelingt es jetzt der Tochter, vertrackte Melodielinien mitzusingen, die sie auf dem Klavier improvisiert. Das brachte ihr die Zusammenarbeit mit Größen wie Al Di Meola, Stanley Clarke oder Bill Evans ein. Seit 1989 lebt Aziza Mustafa Zadeh in Mainz - übrigens eine der Partnerstädte von Baku.
Lokale Tradition versus Europa-Pop
Was Popmusik betrifft, so schielt man in Aserbaidschan immer noch auf das Nachbarland Türkei. Dabei wäre das gar nicht nötig. Denn ebenfalls aus Baku stammt Sevda Alekperzadeh, kurz Sevda. Sie hat das Kunststück fertig gebracht, mehrere Musikstile zu vereinigen. Die 34-jährige beschäftigt sich seit ihrer Jugend intensiv mit Muğam, mit Volksliedern, mit Jazz und Klassik sowie Popmusik westlicher Prägung und hat sogar zwei Platten beim deutschen Label Network veröffentlicht.
Beim diesjährigen Beitrag für den Eurovision Song Contest (ESC), der in Baku stattfand, hat sich Aserbaidschan allerdings eher gegen lokale Traditionen und für europatauglichen Pop entschieden. "When the music dies" von Sabina Babayeva kam auf Platz 4 und hätte, mal abgesehen von ein paar orientalischen Schnörkeln im Background, für fast jedes Land im Wettbewerb antreten können.