Klimapaket nach 30 Jahren Tiefschlaf
19. September 2019Das Licht der silbrigen Hochleistungslampen strahlt unbarmherzig und bis zu 10.000 mal so stark wie das Sonnenlicht auf der Erde, Temperaturen von bis zu 3000 Grad Celsius lassen Stahlplatten im Nu zerschmelzen, die Sonneneinstrahlung eines ganzen Jahres lässt sich hier in nicht einmal elf Tagen simulieren: In Jülich steht die größte künstliche Sonne der Welt.
Seit zwei Jahren ist das rheinische Städtchen nahe der Grenze zu den Niederlanden ein Paradies für Wissenschaftler und ganz besonders für Klimaforscher. Denn mit dem Imitieren der Sonne gewinnt man den umweltfreundlichen Treibstoff der Zukunft: Wasserstoff. CO2-neutral gewonnen gilt als ganz wichtiges Puzzlestück zum Erreichen der deutschen Klimaziele, denn es ist sowohl für Autos als auch für Flugzeuge geeignet. "Unsere Vision ist es, eines Tages mit Wasserstoff Kerosin und Benzin überflüssig zu machen", erklärt Kai Wieghardt vom Institut für Solarforschung.
In zehn Jahren sei die Forschung so weit, ist die optimistische Prognose des Solarwissenschaftlers. Doch jetzt, da ganz Deutschland über Klimaschutz spricht, da an diesem Freitag so viele Deutsche wie nie dafür auf die Straße gehen könnten und das Klimakabinett die Eckpunkte der deutschen Klimapolitik bis 2030 vorstellt, stellt sich die Frage: Ist das schnell genug? Muss die Politik nicht mehr Geld in die Klimaforschung stecken, um die Klimaziele zu erreichen?
Das Institut für Solarforschung gehört zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Mehr als 300 Millionen Euro hat das DLR in den letzten zehn Jahren erhalten, um neue Technologien für eine bessere Klimabilanz zu entwickeln. Kai Wieghardt fordert ein Umdenken bei Politik und Industrie: "Wir müssen den Energiemix weiter in Richtung erneuerbare Energien verschieben", betont er, "und die Unternehmen müssen sich mehr bewegen und die Forschung schneller in die Praxis umsetzen."
Die Bundesministerin für Forschung will mehr Geld
Anja Karliczek hört solche Sätze gern. Im Gegenzug schwärmt die Bundeswissenschaftsministerin von den deutschen Leuchtturmprojekten wie der größten künstlichen Sonne der Welt in Jülich, wenn sie mehr Geld für die Klimaforschung eintreiben will: "Nur über technische Innovationen werden wir den Kampf gegen den Klimawandel gewinnen. Und jeder Euro für den Klimaschutz ist gut angelegtes Geld." Karliczek träumt schon von einem neuen Siegel "Made in Germany" - diesmal nicht für deutsche Autos, sondern bei den Klimainnovationen.
Doch Klimaforschung ist teuer, und die bisher zugesagten 1,6 Milliarden Euro bis 2024 reichten für eine internationale Vormachtstellung bei weitem nicht aus. Karliczek fordert deshalb fast das Doppelte. Nur mit zusätzlichen 1,4 Milliarden Euro könne die Entwicklung klimafreundlicher Technologien vorangetrieben werden: die Wasserstoffgewinnung, chemische Grundstoffe aus Treibhausgasen oder schlicht energieeffizientere Elektrongeräte.
30 Jahre lang klimaschutzpolitisch geschlafen
Bei Gregor Hagedorn rennt Karliczek mit solchen Forderungen offene Türen ein, er würde der Ministerin sofort die Milliarden in die Hand drücken. Schließlich ist Hagedorn selbst Wissenschaftler, und zwar am Museum für Naturkunde in Berlin. Doch Hagedorn treibt etwas anderes um - er hat die Scientists for Future gegründet. Die mittlerweile 60 Forscher sind wie intellektuelle Bodyguards für die Fridays-for-Future-Bewegung.
Sie geben den jungen Protestierenden Rückendeckung, indem sie deren Forderungen mit wissenschaftlichen Fakten untermauern. Hagedorns Fazit: "Die Politik hat die Wissenschaft 30 Jahre lang ignoriert. Selbst, wenn das Klimakabinett wirksame Maßnahmen für den Klimaschutz präsentiert, wird das nicht reichen. Das ist die Tragik der versäumten Jahrzehnte."
Doch waren nicht auch die Forscher viel zu lange zu passiv? Hätte nicht die Wissenschaft schon viel früher eine nachhaltige Klimapolitik einfordern müssen? Gregor Hagedorn will das nicht so stehen lassen. Er verweist auf den Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Der stammt aus dem Jahr 1988.
Neun Abgeordnete des Bundestages und neun externe Experten hatten darin zu Papier gebracht, was Deutschland dringend zum "Schutz von Mensch und Umwelt" machen muss, vor allem konkrete Maßnahmen zum Energiesparen. "Da stand damals schon alles drin, was wir heute wissen. Den Bericht kann man heute fast noch so veröffentlichen", ärgert sich Hagedorn.
Neues deutsches Klimaschutzwunder?
Doch 1989 fällt die Mauer, ein Jahr später kommt die deutsche Einheit - die Klimapolitik wird zur Nebensache. 1998 kommen erstmals die Grünen in Deutschland an die Macht, doch wieder fordert die Weltpolitik andere Prioritäten: die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg, die Einführung des Euro, die Agenda 2010.
Und so geht es immer weiter, Klimapolitik steht in Deutschland 30 Jahre lang nie ganz oben auf der Agenda. "Man hat hierzulande beim Klimaschutz zwar immer nebenbei einzelne Schritte in die richtige Richtung gemacht, aber nie kontrolliert, ob die Schritte auch groß und wirksam genug waren", kritisiert der Berliner Wissenschaftler.
Hagedorn erwartet vom Klimakabinett eher "Pillepalle" als den großen Wurf. Dabei zeige ein Blick in die deutsche Vergangenheit, dass ein solcher Kraftakt möglich sei: "Wenn man sieht, was Deutschland in den Jahren 1949 bis 1955 beim Wiederaufbau geleistet hat, würde heute jeder sagen, so etwas ist völlig unmöglich."
Ein deutsches Klimaschutzwunder also? Deutsche Forscher und Wissenschaftler wie Hagedorn haben sich jedenfalls geschworen, den Druck auf die Politik auch in den nächsten Jahren fortzusetzen.