Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter und Mütter. So dürften sich am Donnerstag einige Journalistinnen und Journalisten in Deutschland zugeprostet haben, nachdem Bundesinnenminister Horst Seehofer erklärt hatte, dass er doch keine Strafanzeige gegen Hengameh Yaghoobifarah erstatten werde. Wenige Tage zuvor hatte er das noch lautstark angekündigt.
Anlass war eine Kolumne der Autorin in der links-alternativen 'Tageszeitung' (taz), in der sie darüber sinniert, was mit Polizisten geschehen solle, wenn die Polizei abschafft würde. Ihr Fazit: "Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten."
Grenzüberschreitung
Es gibt Menschen, die das für eine erlaubte oder gar gelungene Satire halten. Viele fanden den Text nur dumm, was jedoch strafrechtlich nicht relevant ist. Manche aber, wie etwa Bundesinnenminister Horst Seehofer, glaubten, hier handele sich um eine Grenzüberschreitung, die man sehr wohl strafrechtlich sanktionieren müsse. So kündigte Seehofer in gewohnt polternder Art an, er werde in seiner Funktion als Minister Anzeige gegen die Journalistin erstatten, denn ihr Text sei menschenverachtend und "eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen".
Das wiederum löste eine Welle der Empörung in zahlreichen deutschen Medien - auch bei der DW - und bei manchen Politikern aus. Ein Angriff auf die Pressefreiheit sei das, so die einhellige Meinung. Stelle Seehofer Strafanzeige, dann begebe sich Deutschland in puncto Pressefreiheit in die Gesellschaft von Staaten wie der Türkei, Polen, Ungarn, Russland, dem Iran, China oder den Philippinen. Nur Nordkorea blieb unerwähnt.
Wohl nach reiflicher Überlegung, zwei angekündigten Terminen, an denen er sich dann doch noch nicht entschieden hatte, und mindestens einem "vertraulichen Gespräch" mit der Bundeskanzlerin, machte Seehofer - wie schon öfter in der Vergangenheit - einen Rückzieher. Nun will er plötzlich keine Anzeige mehr erstatten, sich stattdessen lieber mit der taz-Chefredakteurin unterhalten.
Die Pressefreiheit war nicht in Gefahr
Ein Sieg des Journalismus! Der entschlossene Widerstand hat gefruchtet, die Pressefreiheit wurde verteidigt! Dumm an der Sache ist allein: Die Pressefreiheit in Deutschland war überhaupt nicht in Gefahr.
Denn, erstens, Deutschland ist ein Rechtsstaat. Eine Anzeige ist noch lange keine Anklage. Gegen Hengameh Yaghoobifarah und ihre Kolumne liegen bei der Berliner Staatsanwaltschaft inzwischen mehr als 25 Anzeigen vor. Und beim Deutschen Presserat - dem Organ der Selbstkontrolle deutscher Printmedien - der sind bisher etwa 340 Beschwerden eingegangen. Die Strafanzeige eines Bundesministers mag eine größere öffentliche Aufmerksamkeit nach sich ziehen, als manch eine andere - juristisch gesehen hat sie aber kein größeres Gewicht. Ob es trotz der vielen Anzeigen zu einer Anklage kommt, ist zurzeit noch unklar. Aber selbst wenn es sie geben sollte - das sagt noch lange nichts darüber, wie ein Urteil ausfallen wird. In der Türkei, oder etwa in Russland, sieht das in der Regel anders aus.
Zweitens, und noch einmal: Deutschland ist ein Rechtsstaat. Es gibt wohl kaum einen anderen Berufsstand im Lande, der in seiner Unabhängigkeit so geschützt wird wie die Richter. Kein deutsches Gericht würde und dürfte sich allein durch die Tatsache beeindrucken lassen, dass ein Bundesminister eine Anzeige erstattet hat. Und schon gar nicht, wenn es sich um einen öffentlich so intensiv diskutierten Fall handelt.
Drittens: Wenn es um den institutionellen Schutz von Berufen geht, stehen die Journalistinnen und Journalisten in Deutschland dicht hinter den Richterinnen und Richtern. Auch die bisherige Gerichtspraxis lässt nicht vermuten, dass die Pressefreiheit im Lande irgendwie bedroht wäre. Und übrigens, Journalistinnen und Journalisten gehören in Deutschland im Regelfall nun wirklich nicht zu den Menschen, die unter prekären Bedingungen arbeiten. Ihr relativer Wohlstand stärkt zusätzlich ihre Unabhängigkeit. Wenn da schon eine Ankündigung einer Strafanzeige als "Einschüchterungsversuch" empfunden wird, dann steht es nicht gut um das Selbstverständnis und das Selbstvertrauen der journalistischen Zunft hierzulande.
Allein die Verhältnismäßigkeit kommt unter die Räder
Nein, die Pressefreiheit ist in Deutschland nicht bedroht, und das war sie in den vergangenen Tagen auch zu keinem Zeitpunkt. Selbst eine Strafanzeige des Bundesinnenministers hätte daran nichts geändert.
Was aber hier unter die Räder kommt, ist die Verhältnismäßigkeit. Die Maßstäbe scheinen ein wenig durcheinander geraten zu sein. Wenn man beim Thema Pressefreiheit Deutschland in einem Atemzug nennt mit der Türkei, Russland, Ungarn oder dem Iran, dann ist das nicht nur ein Zeichen von Hyperventilation, sondern vor allem ein Ausdruck der Verharmlosung der Lage in den anderen genannten Ländern.
Denn dort werden Journalistinnen und Journalisten tatsächlich bedroht, verhaftet, massivst schikaniert, mit Berufsverboten belegt oder einfach getötet. Dort ist nicht nur die Pressefreiheit bedroht, sondern im höchsten Maße auch das Leben der Menschen, die diesen Beruf ausüben. Dort werden die Andersdenkenden und unabhängig Schreibenden nicht nur symbolisch, sondern mitunter tatsächlich auf der Mülldeponie entsorgt. Und das ist weder Satire noch lustig.