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Der ESC: Kunst und Demokratie

Rick Fulker24. Mai 2015

Brav und gefällig? Oder ganz ausgefallen? Der Eurovision Song Contest hat immer schon mit diesem Widerspruch gerungen. Manchmal ist er beides. Auch in diesem Jahr, meint DW-Musikredakteur Rick Fulker.

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Fan in Kleid mit EU-Sternen (Foto: picture alliance/dpa/J. Stratenschulte)
Bild: picture-alliance/dpa/J. Stratenschulte

1956: Der müde, kriegsgeschädigt Kontinent befindet sich langsam in Aufbau, aber die kulturellen Narben sind da. Das Gemeinschaftliche unter den vor kurzem verfeindeten Ländern zu suchen, ist ein anstrengendes und mühseliges Unterfangen. Dem zum Trotz erfindet die European Broadcasting Union einen Gesangswettbewerb, bei dem einst verfeindete Länder gegeneinander antreten.

Was aber könnte jungen und alten Menschen verschiedener Sprachen und Religionen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten gleichermaßen gefallen und einen Gemeinschaftssinn erzeugen? Eine klare Antwort bleibt auch nach 60 Jahren bei der inzwischen größten Unterhaltungsshow der Welt aus. Jedes Mal, wenn man glaubt, die Erfolgsformel für den ESC herausgefunden zu haben, wird diese im Folgejahr außer Kraft gesetzt.

Kunst oder Demokratie?

DW-Musikredakteur Rick Fulker
DW-Musikredakteur Rick Fulker

Wie kann man gerade in einem demokratischen Wahlprozess das Besondere finden? Widerspricht sich das nicht? Der Eurovision Song Contest trieb in seiner Geschichte so manche seltsame Blüte. Er war eher ein Paralleluniversum als eine Spiegelung des Popmusikbetriebs.

Inzwischen werden ganze Industriezweige mobilisiert, um den Erfolg beim ESC zu generieren, denn im Grunde ist er eher ein Kompositions- denn ein Sängerwettbewerb. Vom Konzept bis hin zum Auftritt ist das Kalkül am grünen Tisch oft unübersehbar. So war es bei dem diesjährigen Beitrag aus Russland, der mit seiner Friedensbotschaft allzu berechnend wirkte. Oft geht die Rechnung nicht auf, der Wettbewerb überrascht immer wieder aufs Neue.

Eine Freak-Show? Im vergangenen Jahr gewann eine bärtige Drag Queen. Conchita Wurst konnte beinahe Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko für ihren Erfolg danken. Die Anfeindungen aus Russland und Weißrussland gegen den Travestiestar und - in der Folge - gegen das "schwule" Westeuropa hatten am Walhabend vor einem Jahr sicherlich eine Gegenbewegung beim ESC-Wahlvolk mobilisiert. Conchita gab dem Wettbewerb die Botschaft von Toleranz und individueller Selbstbestimmung und gleichzeitig eine neue politische Dimension.

Plötzlich gab es eine Königin Österreichs - vielleicht auch Europas - und sie war ein Mann. Aber einer, der singen kann. Conchita überhöhte die Freak-Show und führte sie in den Mainstream.

Conchita Wurst (Foto: Reuters/L. Foeger)
Der Sieg von Drag Queen Conchita Wurst gab der Show 2014 eine neue politische DimensionBild: Reuters/L. Foeger

Auch musikalische Vielfalt

Das Ergebnis im aktuellen Jahrgang: Es gab zwar viele "eskalierende Powerballaden" (für mich ein neuer Begriff) in diesem Jahr, jedoch nur wenig Trash von der Sorte, die den gewollt schlechten Geschmack herauskehrt. Es gab auch keinen eindeutigen Favoriten. Die Musik kam aus unterschiedlichen Richtungen, und es war viel Qualität dabei, auch starke Refrains und tanzbare Rhythmen sowie Songs mit einer Botschaft gegen Krieg oder Völkermord (Ungarn, Frankreich, Armenien) oder Songs, die von menschlichen Abgründen handeln (Norwegen). Dazu kam noch kultivierter, harmloser Spaß (Großbritannien), Hardcore-Partysound (Israel) oder eine schnörkellose Ballade mit einer einfachen, aber tiefgehenden menschlichen Botschaft (Zypern). Dass Deutschland mit einem starken Lied und einer Profi-Sängerin null Punkte erhielt, ist zwar bedauerlich, spiegelt jedoch in erster Linie die Tatsache wider, dass es ein sehr starker Jahrgang war.

Kunst und Demokratie!

Das behauptet sogar ein Wagnerianer. An dieser Stelle ein Bekenntnis: Als klassischer Konzert- und Operngänger, als langjähriger Besucher der Bayreuther Festspiele hätte der Autor dieser Zeilen nicht gedacht, dass er einmal zum Eurovision Song Contest fahren würde. Dann habe ich gemerkt, dass der ESC stets das Flurgesprächsthema Nummer eins in den Wochen und Tagen davor ist, dass es Eurovision Partys gibt, dass meine Kollegen - vor allem die aus dem Balkan und den osteuropäischen Ländern - den Spaß ernst nehmen. Sehr ernst sogar. Und wenn ein Musikevent nicht nur die Berufskollegen, sondern auch 200 Millionen Fernsehschauer bewegt, musste ich mich irgendwann damit auseinandersetzen.

Die europäische Idee - in der ESC-Ausprägung - wurde schon mal in Asien ausgetragen. Im 60. Jubiläumsjahr nahm Australien daran teil und die Show wurde erstmals live in China ausgestrahlt. Meine US-amerikanische Heimat wird wohl nie dabei sein, denn sie wird anscheinend ewig auf ihren kulturellen Sonderstatus beharren. Aber auch dort gibt es ESC-Partys, vor allem in der LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender)-Community.

Was bleibt? Es war ein sehr starker Jahrgang. Schweden hat gewonnen, zum sechsten Mal, mit "Heroes", einem Lied, das Schwung hat und gleichzeitig eine heroische Botschaft, die nicht zu dick aufgetragen ist. Und mit der Frage "Geht Kunst und Demokratie zusammen?" habe ich meinen Frieden geschlossen. Das geht. Schließlich wollte auch Richard Wagner letztendlich gefallen.

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