Selbstbewusst realitätsfern
"Wir schreiben Deutschlands Zukunft mit". Mit diesem Slogan wollen die Sozialdemokraten vom Juniorpartner in der Großen Koalition zur Volkspartei der "arbeitenden Mitte" aufsteigen. Eine Zukunftsvision, die auf dem Parteitag in Berlin in 900 Anträgen ausgebreitet, und mit viel sozialdemokratischer Prosa und Selbstbewusstsein vorgetragen wurde. SPD-Chef Sigmar Gabriel, dessen Wahl sich zur Schlappe entwickelte, schwor seine Parteigenossen auf eine "Kultur des Aufbruchs" ein. Bereits bei seiner Wiederwahl kam dieser Aufbruch allerdings ins Stocken - denn nur 74 Prozent der Parteitags-Delegierten fühlen sich von ihm vertreten. Wirklicher Aufbruch sieht anders aus.
Die SPD fordert Klarheit, die ihr selbst noch fehlt
Gabriel entwarf das Bild einer Partei, die der "Treiber der Modernisierung" in Deutschland sein will, mit klaren Zukunftsvisionen und Wertvorstellungen. Doch jetzt plagt die SPD ein doppeltes Problem: Nach diesem Parteitag geht ihr alter und neuer Parteivorsitzender deutlich geschwächt in die Auseinandersetzung mit Unionsparteien, Opposition und rechtspopulistischen Gruppen. Ganz gleich ob es um die Bewältigung der Flüchtlingskrise, den Kampf gegen den Terror oder die Gestaltung einer "offenen Gesellschaft" geht: Es hängt ihm der Makel an, einer Partei im Schlingerkurs vorzustehen, die einen Vorsitzenden auf Abruf gewählt hat.
Viel schwerwiegender aber als das reine Personalproblem der Sozialdemokraten erscheint, was sich bereits zuvor im Verlauf der inhaltlichen Debatte des Parteitags abgezeichnet hat. Denn die SPD bietet ihren Wählern einen bunten Strauß an Zukunftsvisionen: lösungsorientiert und mit klarem Kompass auf soziale Gerechtigkeit, heißt es dort. Konkrete Fragen des Hier und Jetzt lässt die Partei allerdings erschreckend unbeantwortet - was Populisten und rechten Brandstiftern Munition im Stimmenfang liefern wird. Beispiele sind der Zustand der Europäischen Union, aber auch die Flüchtlingskrise im Inland.
Dass die Sozialdemokraten den Zustrom von Flüchtlingen mit offiziellen Kontingenten begrenzen wollen, klingt vielversprechend, lässt aber Fragen offen. Denn so sinnvoll legale Migrationswege nach Europa sind: Die SPD verweigert bislang eine Antwort darauf, wie mit jenen Flüchtlingen umzugehen sein wird, die jenseits von Kontingenten, trotz mehr Schutz der EU-Außengrenzen und trotz mehr Hilfe in Flüchtlingslagern ins Land kommen. Diesen Zustrom wollen Teile der CSU mit Obergrenzen deckeln, was wenig praktikabel und menschlich zweifelhaft erscheint. Das die Visionspartei SPD den Wählern hier aber nur eine Leerstelle anzubieten hat, macht das Anliegen zunichte, das die SPD glaubhaft anstrebt: den "nationalistischen Rechten" in Europa Einhalt zu gebieten.
Keine Konzepte für die Flüchtlingskrise und die EU
Wenn Gabriel den Unionsparteien in der Flüchtlingsdebatte also mangelnde Klarheit vorwirft, dann ist das wohlfeile Parteitags-Rhetorik. Denn die Realität heißt: Bislang hat keine der beiden Volksparteien ein Konzept, welche das Problem in Gänze erfasst. Die "wahren Helden", wie Gabriel die Millionen Flüchtlingshelfer hierzulande nennt, dürften es der Volkspartei SPD nicht durchgehen lassen, an dieser Stelle das Feld den Populisten zu überlassen. Das Mantra der SPD, dass am Recht auf Asyl nicht gerüttelt wird, ist menschlich integer und konsequent. Aber es blendet aus, dass die SPD sich bereits in den 1990er-Jahren Asylrechtsreformen verweigerte, als Flüchtlinge vom Balkan nach Europa kamen. Sie tat dies bis zu dem Tag, als der öffentliche Druck zu groß wurde. Dann stimmte auch die SPD für Asylrechtsformen, von denen die Partei heute nichts mehr wissen will.
Ähnliche Leerstellen bietet die SPD auch in ihrer Europa-Politik. Zwar sagt Vize-Kanzler Gabriel, in seiner Partei seien die "Experten für gesellschaftlichen Zusammenhalt". Aber die Europäische Union, die sich beim Streit um die Verteilung um Flüchtlinge in Lager gespalten hat, wartet auf Initiativen, die zuammenführen, was zuammengehört. Doch von der SPD kommen nur Vorschläge, die bestenfalls als Weckruf taugen, an Zersplitterung und Handlungsunfähigkeit aber nichts ändern. Mehr Finanztransfers für alle jene, die besonders viel für Flüchtlinge tun, ist als Konzept einfach zu dünn. Da hilft auch nicht, dass SPD-Parteichef an das gegenseitige Vertrauen und den gemeinsamen Handlungswillen in Europa appelliert.
"Wir machen das'' - vielleicht
Leerstellen im Programm und ein schwacher Parteivorsitzender, der emotoional redet, aber viele in seiner Partei nicht mitnimmt: Bis wirklich gelingt, was die SPD sich mit dem Slogan "Wir machen das" vorgenommen hat, wird nach diesem Parteitag noch länger dauern. Wie gut, dass Gabriel sich vorgenommen hat, um "jede Seele zu kämpfen". Er wird zunächst um die Zustimmung seiner eigenen Partei kämpfen müssen. Und erst wenn er diese Zustimmung hat, kann die Aufholjagd um bessere Wahlergebnisse beginnen. Er muss hoffen, dass dann die nächste Bundestagswahl noch nicht vorbei ist.
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