Kreuzbandriss: Frauen hormonell und genetisch im Nachteil
24. April 2024DW: Frau Wilke, früher bedeutete ein Kreuzbandriss im Profisport nicht selten das Karriereende. Heute ist das nicht mehr so. Sind Kreuzbandrisse heutzutage weniger schlimm als früher?
Christiane Wilke: Die Behandlungsstrategien haben sich verbessert. Vor 20 Jahren wurde nach einem Kreuzbandriss eine offene Operation durchgeführt und das ganze Knie dabei eröffnet. Damit waren ganz andere Strukturen betroffen und alleine die postoperativen Folgen viel eklatanter, als es heutzutage mit minimalinvasiven Operationsverfahren der Fall ist. Auch die Therapie und das Training in der Regeneration laufen besser und sind ganz anders aufgebaut als früher.
Es gibt also keinen Grund, warum ein Profisportler nach einem Kreuzbandriss nicht in den Profisport zurückkehren sollte.
Es kann immer individuelle Gründe geben und es gibt ja meistens auch nicht nur den selektiven Kreuzbandriss, sondern oft sind es komplexere Verletzungen, bei denen neben dem Kreuzband auch andere Bänder, die Menisken oder Knochen beschädigt sein können. Da muss man natürlich individuell entscheiden, aber grundsätzlich steht nach einem Kreuzbandriss einer Rückkehr in den Sport überhaupt nichts im Wege.
Es gibt genug Sportlerinnen und Sportler, die nach einem Kreuzbandriss komplett auf ihr voriges Leistungsniveau zurückkommen. Ein aktuelles Beispiel ist Fußball-Nationalspieler Florian Wirtz von Bayer Leverkusen, der mit einem Kreuzbandriss fast ein Jahr lang ausgefallen ist.
Generell gilt: Frauen erleiden leichter einen Kreuzbandriss als Männer. Warum ist das so?
Ein Grund dafür liegt in der Anatomie. Frauen haben von Natur aus ein breiteres Becken als Männer und neigen daher zu einer X-Bein-Stellung, die einen Kreuzbandriss begünstigt. Ein zweiter Grund ist, dass Frauen in der Regel nicht eine so hohe Muskelkraft entwickeln können wie Männer. Sie haben also bei gleicher Krafteinwirkung auf das Kreuzband unter Umständen nicht die gleichen muskulären Voraussetzungen, das Kniegelenk stabilisieren zu können. Und drittens ist das Bindegewebe bei Frauen nicht so stabil wie bei Männern. Das hat genetische und hormonelle Gründe. Dadurch reißt so ein Band bei einer Frau schneller als beim Mann.
Immer mehr ins Zentrum der Forschung rückt der weibliche Zyklus. Welchen Einfluss hat er auf das Kreuzbandriss-Risiko?
In der zweiten Hälfte des Zyklus bereitet sich der Körper auf eine Empfängnis und damit auf eine Schwangerschaft vor. Der Progesteronspiegel steigt an. [Anm.d.Red.: Progesteron ist ein Sexualhormon, das bei Frauen u.a. das Wachstum der Gebärmutterschleimhaut anregt.] Dadurch werden Bindegewebe und Bänder weicher. Man versucht gerade, das genauer zu erforschen. Es ist aber unglaublich schwierig, valide Aussagen zu treffen. Der Progesteronspiegel kann nämlich durch andere körpereigene Hormone, durch die Einnahme hormonhaltiger Medikamente, zum Beispiel der Pille, aber auch durch Stress oder die Ernährung beeinflusst werden. Man tastet sich heran.
Es gibt aber die Beobachtung, dass in bestimmten Zyklusphasen häufiger Verletzungen an den Bändern vorkommen. Man beobachtet auch bei jungen Sportlerinnen, dass wirklich ernsthafte und schwerwiegende Kreuzband- oder sonstige Bandverletzungen erst ab dem 14. oder 15. Lebensjahr auftreten. Vielleicht weil dann Pubertät und Zyklus einsetzen und die hormonellen Unterschiede zum männlichen Geschlecht deutlicher werden.
Gleichzeitig steigt in diesem Alter aber auch die Beanspruchung, weil in den meisten Sportarten dann eher eine leistungsorientierte Förderung stattfindet. Diesen Fragen wird in Studien zurzeit nachgegangen, um zu gucken, ob man daraus irgendwelche Rückschlüsse ziehen kann.
Gibt es - unabhängig vom Geschlecht - Maßnahmen, mit denen man einem Kreuzbandriss vorbeugen kann?
Definitiv durch gezieltes Stabilisationstraining. Leider kommt in vielen Sportarten das Athletiktraining zu kurz. Selbst wenn drei- bis viermal in der Woche trainiert wird, stehen immer sportartspezifische Inhalte im Fokus. Bei Mannschaftssportarten sind das zum Beispiel Technik, Taktik und Spielzüge. Ich finde das nicht richtig. Ab einem Alter von 13, 14 oder 15 Jahren sollte ein Athletiktraining mit Stabilisationsübungen für Hüfte, Rumpf, Oberkörper und untere Extremitäten, das dann auch noch spezifisch auf eine bestimmte Verletzungsprophylaxe hinarbeitet, verbindlich in das Mannschaftstraining eingebaut werden.
Das ist auch in professionell orientierten Vereinen oder Verbandsfördergruppen meist nicht der Fall. Da gibt es deutlich Luft nach oben. Meiner Meinung nach gehört die Bedeutung des Athletiktrainings von Anfang an in jede Trainerausbildung, egal in welcher Sportart.
Was wäre ihr Vorschlag, wie man diese Übungen schon bei Heranwachsenden in das tägliche oder wöchentliche Training einbauen könnte?
Ich würde sagen, wenn Kinder anderthalb oder zwei Stunden lang Training haben, sollte am Anfang eine Viertelstunde oder 20 Minuten lang Athletiktraining gemacht werden. Das werden die nicht toll finden, aber es sollte dazugehören.
Ab einem gewissen Zeitpunkt und einer gewissen Leistungsklasse und je nach Sportart bekommen Jugendliche ja auch Hausaufgaben, was Ausdauertraining angeht. Dass man beispielsweise pro Woche zweimal fünf Kilometer laufen soll, oder ähnliches. Für Stabilisationsübungen könnte man das genauso handhaben, aber das ist noch nicht so im Bewusstsein. Ein paar Minuten alle zwei Tage, das wäre schon gut.
Dr. Christiane Wilke ist Sport-Wissenschaftlerin. Sie forscht und lehrt an der Deutschen Sporthochschule Köln in den Bereichen Gesundheit in Prävention und Therapie sowie Rehabilitation und Gesundheitsmanagement.