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Krieg und Krisen verstärken Antiziganismus

29. März 2023

Menschen, die als Roma wahrgenommen werden, erleben Diskriminierung: als Geflüchtete, Kranke, Kita-Kind oder bei Behörden. Die Vorfälle in Berlin hat Amaro Foro dokumentiert.

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Ein Mensch steht vor dem Brandenburger Tor in Berlin und hält sich eine blau-grüne Flagge mit einem roten Rad in der Mitte vors Gesicht
Antiziganismus richtet sich gegen die Minderheit der Roma und Menschen, die man dafür hält - nicht nur in Berlin Bild: Sarah Eick/Amaro Foro e.V.

Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine kamen in der deutschen Hauptstadt Berlin an. Die meisten wurden freundlich empfangen. Manche aber mussten an Verpflegungsständen mit Ausweisen belegen, dass sie "richtige Geflüchtete" sind. Einige wurden rassistisch beleidigt. Einer Familie versperrten Sicherheitskräfte im Hauptbahnhof den Weg zum Corona-Test und wollten ihr ein Hausverbot erteilen.

"Seit Beginn des russischen Angriffskrieges beobachten wir, dass aus der Ukraine geflüchtete Rom*nja nicht als Schutzsuchende, sondern als illegitime Geflüchtete markiert werden", kritisiert Violeta Balog, Leiterin der Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA) bei der Roma-Selbstorganisation Amaro Foro e.V. in Berlin: "Krieg und Krisen verstärken Antiziganismus".

Blick in eine Bahnhofshalle mit vielen Menschen, einige tragen leuchtende Warnwesten
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine kamen viele Tausend Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof anBild: Vladimir Esipov/DW

Deutlich mehr Antiziganismus-Vorfälle in Berlin

DOSTA weist auf die deutsche Verantwortung durch die nationalsozialistischen Verbrechen an der Minderheit der Sinti und Roma in Europa hin: "Auch auf dem Gebiet der Ukraine fand der deutsche Vernichtungsfeldzug statt und der sogenannte Holocaust by bullets, also Massenerschießungen."

Eine Karte von Europa im Zweiten Weltkrieg, zahlreiche Symbole zeigen, wo sich Konzentrationslager befanden und wo überall Massenerschießungen stattfanden
Sinti und Roma wurden im NS-Völkermord in Lagern ermordet, vielfach aber auch durch Erschießungen in ihren Heimatorten

Seit 2014 dokumentiert DOSTA die rassistische Diskriminierung von Menschen, die Roma sind, oder als Roma wahrgenommen werden in Berlin. Für die Jahre 2021 und 2022 wurden zusammen 372 Fälle erfasst; es sind die höchsten Zahlen seit Projektbeginn. Das Team geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

Erst seit 2022 gibt es auf Empfehlung der Unabhängigen Kommission Antiziganismus auch eine bundesweite Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA), gerade hat sich ein Verein als Träger gegründet.

Flüchtlingsstatus angezweifelt

Mehmet Daimagüler, der Antiziganismus-Beauftragte der Bundesregierung, bestätigt die Benachteiligung von Roma aus der Ukraine in allen Phasen der Flucht, in der Ukraine selbst und in Deutschland. Mehr als 30 Menschen wurden von Bundespolizei und Bahnpersonal aus einem ICE gedrängt. Das Bahnpersonal hatte ihren Flüchtlingsstatus angezweifelt.

Daimagüler sagt der DW: "Ich halte es für unerträglich, dass Roma, Nachfahren von Menschen, die den Holocaust überlebt haben, die zum Teil in Zügen der Reichsbahn zu den Gaskammern gefahren wurden, jetzt in Zügen der Deutschen Bahn diskriminiert werden." Es gab ein Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn und dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die Bahn hat sich verpflichtet, ihre Beschäftigten über Antiziganismus zu schulen.

Ein Mann mit längerem weißen Haar, in Hemd, Krawatte und Pullover schaut freundlich entschlossen in die Kamera
Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler ist der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und RomaBild: Martin Schutt/dpa/picture alliance

DOSTA verweist darauf, dass auch Geflüchtete aus Moldau in Berlin sehr negative Erfahrungen gemacht haben. Man stelle sie pauschal als Roma dar und "illegitime Geflüchtete", sagt Politikwissenschaftler Aron Korozs. Roma in Moldau hätten kaum Zugang zur Bildungs- und Gesundheitsversorgung. In Berlin gebe es Abschiebungen schwerkranker Menschen und hochschwangerer Frauen.

Antiziganismus im Alltag

Eine Frau meldet sich bei der Rettungsstelle in einem Berliner Krankenhaus, weil es ihr nach der Chemotherapie sehr schlecht geht. Sie muss sich übergeben. Sicherheitsleute werfen sie raus und sagen: "Du kommst eh nur zum Essen und Trinken her."

Eine rumänische Frau hebt in einem Supermarkt eine Wassermelone hoch, um zu schauen, ob sie reif ist. Das Sicherheitspersonal verjagt sie, "weil Zigeuner immer klauen". Die Beschimpfte hat Anzeige wegen Beleidigung erstattet. Unter der rassistischen Fremdbezeichnung wurden Sinti und Roma in der NS-Zeit verfolgt und ermordet, in Konzentrationslagern wurde ihnen ein Z eintätowiert. Das Wort, sagt Violeta Balog, sei "beleidigend, rassistisch, verletzend".

Beim Einkauf, der Arbeit oder im Kontakt mit Nachbarn und Vermietern - Roma und Menschen, die man dafür hält, erleben in allen Lebensbereichen Diskriminierung - das zeigt die DOSTA-Auswertung.

Es sei schwer für Betroffene, sich zu wehren, sagt Balog, denn es gehe oft um existenzielle Bedürfnisse wie Wohnraum oder Arbeit. Viele hätten Angst vor den Folgen. Nicht ohne Grund: Ein Ratsuchender beschwerte sich mit Hilfe von Amaro Foro über eine Diskriminierung seines Vermieters. Ihm wurde gekündigt.

Antiziganistische Vorurteile und Straftaten  

Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 ergab, dass viele Menschen auf Fragen nach Sinti und Roma mit Ablehnung antworten. "Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten", dieser Aussage stimmte mehr als die Hälfte der Befragten im Osten Deutschlands und mehr als ein Drittel im Westen zu. Noch höher war die Zustimmung zur Aussage "Sinti und Roma neigen zur Kriminalität."

Antiziganismus führt zu immer mehr Straftaten gegen die Minderheit. "Im Jahr 2022 wurden 145 antiziganistische Straftaten registriert, darunter zwölf Gewaltdelikte", so antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion. Es ist der höchste Wert seit der ersten Erfassung 2017. Mehmet Daimagüler sagte der DW, er gehe davon aus, dass diese Zahl "nur einen Bruchteil der Realität" zeigt.

Bildung

Eine rumänische Mutter sucht einen Kita-Platz für ihre Tochter. Am Telefon sagt ihr die Kita-Leiterin, es gebe freie Plätze. Als sie mit ihrer Tochter hingeht, schickt man sie sofort wieder weg: Es gebe doch keine Plätze. Eine Bekannte von ihr, "die weiß gelesen wird", erhält einige Tage später dort einen Platz für ihr Kind.

Bildung ist einer der Schwerpunkte in der Dokumentation. Nicht nur Kita-Plätze würden Roma und denen, die man dafür hält, verwehrt, sagt Violeta Balog, auch auf Schulplätze würden viele Kinder "ewig warten". Moldauische Kinder lehnten manche Schulleitungen pauschal ab. Begründung: "Die werden eh abgeschoben."

Wenn Kinder aus der Minderheit zur Schule gingen, komme es häufig zu Mobbing durch Mitschüler und durch Lehrpersonal. Die RomnoKher-Bildungsstudie stellte fest: Mehr als sechs von zehn Angehörigen der Minderheit erlebten in der Schule Diskriminierung.

Eine Gruppe von Kinder steht dicht zusammen für ein Foto, die meisten lächeln fröhlich
Alle Kinder sollten gleiche Chancen für eine gute Bildung bekommen und nicht diskriminiert werden, fordert die Roma-Selbstorganisation Amaro ForoBild: Uwe Anspach/dpa/picture alliance

Rassistisches Mobbing in der Schule könne starke Auswirkungen auf den Bildungsweg der Kinder haben und ihre Chancen einschränken, sagt Violeta Balog. Kita- und Schulplätze müssten für alle Kinder zur Verfügung gestellt werden. Statt der Abspaltung in Willkommensklassen sollten alle Kinder zusammen unterrichtet werden, ergänzt durch Sprachförderung. Diskriminierung dürfe nicht hingenommen werden: "Es muss unabhängige Beschwerdestellen geben, die auch Befugnisse haben."

Balog kritisiert, dass der NS-Völkermord an der europäischen Minderheit der Sinti und Roma in Geschichtsbüchern meist nur in einem Nebensatz vorkomme. "Vor allem deutsche Sinti sind seit über 600 Jahren Teil dieser Gesellschaft. Es kann nicht sein, dass wir immer noch in einer Zeit der Ignoranz leben."

Zwei Frauen und ein Mann sitzen auf einer Treppe und blicken in die Kamera
Das Team der Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA): Violeta Balog, Aron Korozs und Valerie Laukat (v.l.n.r.)Bild: Sarah Eick/Amaro Foro e.V.

Behörden

In Berlin trat 2020 das bundesweit erste Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) in Kraft. DOSTA sieht Fortschritte, registrierte aber auch danach antiziganistische Vorfälle in Behörden. Dazu gehören auch Bundesbehörden wie Jobcenter und Familienkassen, für die das LADG nicht gilt.

DOSTA erfuhr 2019 durch ein Leak von einer internen Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit, die ursprünglich rumänische und bulgarische Staatsangehörige unter den Generalverdacht des "organisierten Leistungsmissbrauchs" stellte, sagt Balog.

Das Papier sei geändert worden, in der Praxis würden aber immer noch oft irrelevante Informationen und Unterlagen angefordert und die Zahlung von Leistungen stark verzögert. Um Unterstellungen einer "Armutszuwanderung" zu entkräften, weist DOSTA darauf hin, dass die Beschäftigungs- und Arbeitslosenquote bei Menschen aus Rumänien und Bulgarien 2021 kaum von der der deutschen Bevölkerung abwich.

Eine Gruppe von 12 Menschen sitzt und steht in einem großen Raum, viele lächeln sich zu, einige halten eine grün-rote Flagge mit einem roten Rad in die Kamera
Das Team von Amaro Foro e.V. in Berlin: Die Selbstorganisation von Roma und Nicht-Roma engagiert sich gegen Antiziganismus und für ChancengerechtigkeitBild: Sarah Eick/Amaro Foro e.V.

Sozialarbeit

In einer Gemeinschaftsunterkunft rät ein Sozialarbeiter einer Kollegin, einer jungen Bewohnerin nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die habe einen Roma-Hintergrund, deshalb würde sie die Schule bald abbrechen und heiraten, da dies "zur Kultur" gehöre. Die Kollegin antwortet entsetzt, dass sie selbst der Minderheit angehört, studiert und keine Kinder hat. Der Kollege entgegnet: "Ach, Sie sind auch Roma? Sie sehen aber nicht so aus."

Ein Paradebeispiel dafür, sagt Aron Korozs, dass antiziganistische Bilder Teile der sozialen Arbeit präge, wenn eine homogene Roma-Kultur angenommen werde, die es nicht gibt. Soziale Arbeit sollte Menschen nicht in einen Topf werfen, sondern individuelle Lösungen suchen.

Zwei Frauen stehen an einer Stellwand und schauen auf zwei Fotos mit vielen Kommentaren am Rand
Analyse bei Amaro Foro: Bilder und Berichte in den Medien verfestigen uralte Stereotype über Sinti und Roma Bild: Sarah Eick/Amaro Foro e.V.

Medien

Amaro-Foro-Sprecherin Andrea Wierich beschäftigt sich mit der Berichterstattung von Medien über die Minderheit. Es gebe Fortschritte, sagt sie, antiziganistische Klischees seien aber nicht verschwunden: "Die Bettlerin wird sofort als Romni gelabelt, die Ärztin nicht." Bilder trügen zur Stigmatisierung bei: "Rom*nja sind oft nicht als Individuen auf Augenhöhe abgebildet, sondern eher als fremd wirkende Masse, besonders gern mit langen bunten Röcken, dunklen Haaren und von hinten."

Wierich wünscht sich mehr selbstverständliche Präsenz von Angehörigen der Minderheit in den Medien: "Dass ein Rom in der Tagesschau das Wetter präsentiert und nicht nur am Welt-Roma-Tag als Aktivist zu sehen ist."