Lehrbuch für freie Meinungsäußerung
28. September 2005Das Szenario ist nur ausgedacht und doch könnte es sich in vielen Ländern der Welt so abspielen: Eine junge Frau, nennen wir sie Sarah, arbeitet als Buchhalterin bei einer öffentlichen Behörde. Durch Zufall bekommt sie mit, dass ihr Chef, ein ranghoher Abgeordneter, eine große Summe Geld veruntreut. Sie will das Verbrechen bekannt machen, fürchtet aber ihren Job zu verlieren, wenn ihre Identität dabei herauskommt.
Was also tun? Den Reporter einer großen Tageszeitung benachrichtigen und dann um die Geheimhaltung der Informationsquelle bitten? In Deutschland ist dies das Naheliegendste. In einem Land aber, wo alle Medien der staatlichen Zensur unterliegen, kann das persönliche Sicherheitsrisiko in einem solchen Fall schnell massiv werden.
Gehör verschaffen
Vor wenigen Jahren blieben oftmals nur die beiden Option zu schweigen oder eine mögliche Inhaftierung zu riskieren. Heute hätte Sarah durchaus die Möglichkeit, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, ohne in Gefahr zu geraten. Der Weg zur Lösung ihres Konflikts führt über das Stichwort "Blogosphäre". Wie das genau geht, das erläutert das "Handbuch für Blogger und Internet-Dissidenten", das die Organisation Reporter ohne Grenzen im September 2005 veröffentlicht.
Bekannte Internet-Experten und passionierte Blogger, darunter der Betreiber des deutschen Weblogs "netzpolitik.org", Markus Beckedahl, und Julien Pain von Reporter ohne Grenzen haben an dem Projekt mitgewirkt. In virtueller Form ist das Handbuch seit einigen Wochen auf der Website von Reporter ohne Grenzen frei zugänglich und dort in den Sprachen Englisch, Französisch, Chinesisch, Arabisch und Farsi abrufbar.
Meinungen verbreiten
Bloggen ist eine internationale Angelegenheit geworden und mit dem Handbuch soll die "publizistische Ausgeburt des Internetzeitalters" nach Willen der Verantwortlichen bekannter gemacht werden. Elke Schäfter, Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen in Deutschland, sieht in dem Phänomen Weblogs nicht einfach nur eine "Revolution für die Informationsgesellschaft", sondern auch eine wichtige Waffe im Kampf gegen repressive politische Systeme.
"Gerade in Ländern ohne freie Medien sind Weblogs ein hervorragendes Instrument, um unabhängige Information und Meinungen zu verbreiten", sagt Schäfter. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt des Handbuchs auch nicht auf gestaltungstechnischen und inhaltlichen Aspekten, die für den Aufbau eines Weblogs relevant sind. Der angehende Blogger kann sich zwar in einigen Kapiteln über Fachbegriffe, Schreibstile und Layoutfragen schlau machen, soll aber vor allem Ratschläge erhalten, wie er gegebenenfalls anonym bleibt und die Gefahr von Filterung und Zensur seiner Veröffentlichungen umgeht.
Damit zurück zu Sarah: Statt in Schweigen zu versinken, hätte sie gleich mehrere Möglichkeiten, ihre brisanten Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie könnte ihre Entdeckung beispielsweise über verschiedene anonyme E-Mail-Zugänge von ausländischen Anbietern wie "Hotmail" übermitteln, zusätzlich unterschiedliche Server und Computer benutzen und über verschiedene Softwaresysteme ihre virtuellen Pfade verwischen.
Wie sich das Schritt für Schritt umsetzen lässt, erklärt der Internetexperte Ethan Zuckerman in seinem Beitrag "How to blog anonymously" für das Handbuch. Allerdings räumt der Wissenschaftler, der am Berkman-Zentrum für Internet und Gesellschaft an der Harvard Law School arbeitet, auch ein, dass der Schutz der persönlichen Identität nie ganz gewährleistet ist und sehr viel Aufwand bedeutet. "Jeder Schritt in Richtung Anonymität erfordert eine genaue Prüfung der lokalen Gegebenheiten und hängt von dem persönlichen Sicherheitsbedürfnis und der technischen Kompetenz ab", so Zuckerman.
Bloginhalte schützen
Damit die Amateure und Technikabstinenzler unter der Bloggergemeinde dabei nicht auf sich allein gestellt bleiben, enthält das Handbuch viele nützliche Verweise zu Seiten, auf denen kostenlose Software, weitere Hilfsmittel und Tipps zu finden sind. Mit diesen lassen sich auch E-Mails und die eigenen Bloginhalte vor dem Zugriff staatlicher Kontrollorgane mittels Zensur und Filtersystemen besser schützen.
Welche bedauernswerte und damit zugleich gewichtige Bedeutung diesem Aspekt innerhalb der internationalen "Blogosphäre" zukommt, zeigte sich jüngst in China. Anfang September 2005 wurde dort nach einem Bericht von Reporter ohne Grenzen ein Journalist inhaftiert, der über einen E-Mail-Zugang bei Yahoo Informationen über die Beschränkungen der Pressefreiheit im Reich der Mitte ins Ausland weitergeleitet hatte.
Doch auch andere Staaten versuchen der multimedialen Meinungsfreiheit immer massiver zu Leibe zu rücken. Neben China sind es vor allem Tunesien, der Iran, Saudi-Arabien, Vietnam, Kuba und Usbekistan, die Blogger im Visier haben, wie Julien Pain in seinem Beitrag für das Handbuch von Reporter ohne Grenzen herausstellt.
Sichtweisen erweitern
Trotz aller staatlichen Einschüchterungstaktiken geht die freie Meinungsäußerung vielen Bloggern ihrer eigenen Sicherheit gegenüber vor. So finden sich im "Handbuch für Blogger und Internet-Dissidenten" Berichte von Blogbetreibern aus Nepal, Bahrain und Hongkong, die ihre persönlichen Erfahrungen schildern. Was sie alle vereint und sie trotz der Brisanz ihres Tuns bestätigt, ist eine Überzeugung, die Arash Sigarchi, der einen iranischen Blog betreibt, auf den Punkt bringt: "Der Internetjournalismus kann die Meinungsfreiheit fördern und dazu beitragen, dass sich festgefahrene Sichtweisen der Menschen erweitern."