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Lesen für den guten Zweck

Philipp Jedicke | Nadine Wojcik | Sabine Peschel
27. April 2020

Die Buchhandlungen in Deutschland dürfen wieder öffnen, Lesungen vor Ort aber wird es erst mal nicht geben. Viele Schriftsteller haben ihre Aktivitäten ins Netz verlagert - und sammeln dabei Spenden für den guten Zweck.

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Bild: picture-alliance/Bildagentur-online/Begsteiger

Die Kulturszene leidet massiv unter der Corona-Krise. Auch vielen Autorinnen und Autoren ist ein wesentlicher Teil ihrer Einkünfte weggebrochen: Lesereisen und Festivals werden auf absehbare Zeit nicht stattfinden. Doch neben den wirtschaftlichen Aspekten fehlt den Vertretern der schreibenden Zunft vor allem auch Öffentlichkeit. Wie viele andere Kreative haben deshalb auch sie längst den Weg ins Internet gefunden. 

Als einer der ersten lud der mehrfach preisgekrönte Autor Saša Stanišić seine Leser in seine Wohnung ein, virtuell versteht sich. Schon am 19. März, am Tag nach der TV-Ansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Corona-Krise, startete der Social Media-affine Autor eine Lesereihe auf seinem Twitch-Account. "Literatur in Zeiten der Verunsicherung" heißen die Videos, mit denen er Geld für soziale Zwecke sammelt. Mehr als 40.000 Euro sind nach fünf wöchentlichen Lesungen schon zusammengekommen, wie er am 17. April in seiner virtuellen Publikumsbegegnung verkündete. Geld, mit dem er beispielsweise das "Zentrum Überleben" unterstützt, ein Projekt für Geflüchtete. Stanišić, der 2019 für seinen Roman "Herkunft" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, liest aus seinen Büchern und aus noch nicht veröffentlichten Texten – und die Literaturliebhaber im Netz hören nicht nur rund eine Stunde lang zu, sie danken es ihm mit Spenden für gemeinnützige Organisationen wie Obdachlosen- oder Flüchtlingsinitiativen.

Schreib-Challenge #wirschreibenzuhause

Stanišićs Schriftstellerkollege Sebastian Fitzek, der in seiner Karriere schon öfter ungewöhnliche Wege beschritten hat (u. a. las er schon in einer Zahnarztpraxis oder in einem Hospiz), trifft sich unter dem Motto #wirschreibenzuhause jeden Abend mit seinen Lesern auf seinem Instagram-Account und erschafft mit ihnen gemeinsam via Live-Stream Krimi- und Thriller-Kurzgeschichten. "Identität" ist das zentrale Thema. Wegen des großen Zuspruchs wurde die Laufzeit der Aktion verlängert, noch bis zum 26. April kann jeder eine Kurzgeschichte schreiben und sie in den vier folgenden Tagen auf der erst dann freigeschalteten Webseite www.wirschreibenzuhause.de einreichen. Eine Jury wird anschließend diejenigen Texte auswählen, die im Verlag Droemer Knaur als Buch veröffentlicht werden sollen. Die Verkaufserlöse gehen laut Bestsellerautor Fitzek an den "krisengebeutelten Buchhandel".

Hollywoodstars lesen vor

In Hollywood gibt es ähnliche Initiativen. So haben die beiden Schauspielerinnen Jennifer Garner und Amy Adams Mitte März die Aktion #SaveWithStories auf Instagram und Facebook ins Leben gerufen. Zahlreiche Stars, darunter Glenn Close, Natalie Portman, Jeff Bridges, Eddie Redmayne und Jimmy Fallon lesen unter diesem Hashtag für den guten Zweck ihre Lieblingskinderbücher vor laufender Kamera vor.

Auf diese literarische Weise sammeln die Hollywoodgrößen Spenden für die beiden Initiativen "Save the Children" und "No Kid Hungry". Beide kümmern sich um notleidende Kinder, deren Communities besonders stark von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen sind. So organisieren sie zum Beispiel Programme für Schulkinder, die auf Essen und Lernmaterial angewiesen sind, während die Schulen geschlossen sind.

Shakespeare-Sonette und Gutenachtgeschichten

Der 79-jährige britische Schauspieler Patrick Stewart, bekannt vor allem als Star Trek-Kommandant Luc Picard, liest unter dem Hashtag #ASonnetADay jeden Tag auf seinem Twitter-Account Shakespeare-Sonette vor. Stewart gibt sich dabei ganz lässig und trägt kein Make-Up: Die Gedichte sind auf die großartige Stimme des Schauspielers und die Gedichte des "Barden" aus Stratford-upon-Avon reduziert. Die Social-Media-Gemeinde belohnt den Schauspieler mit zehntausenden Likes und Re-Tweets.

Auch Country-Star Dolly Parton lässt sich während des Lockdowns nicht lumpen. Im Rahmen ihres Projekts "Goodnight with Dolly" liest sie einmal in der Woche Gute-Nacht-Geschichten vor. Zudem spendete sie eine Million Dollar für ein Labor, das an einem Coronavirus-Impfstoff arbeitet.

Eine Stiftung der US-amerikanischen Schauspielergewerkschaft SAG hat die Website "storylineonline.net" eingerichtet, auf der Videos von Schauspielern beim Lesen zu sehen sind, angereichert mit Illustrationen. Zu jedem Buch gibt es eine Altersempfehlung und Vorschläge für weitere Aktivitäten. Unter dem Hashtag #OperationStoryTime finden sich bei Instagram, Facebook und auf YouTube Autorinnen und Autoren sowie Illustratoren und Illustratorinnen, die ebenfalls für Kinder lesen.

Poesie und Marathonlesung für den Ausnahmezustand

In Deutschland hat der Schauspieler Daniel Brühl an Ostern eine Lyrik-Lese-Aktion ins Leben gerufen: Auf Instagram und Twitter können Poesiefans ihre Lieblingsgedichte posten oder vortragen. "Mit der Aktion #poetryforlocals soll dazu aufgerufen werden, kleine Läden, Cafés und Restaurants in der Nachbarschaft zu unterstützen", war Brühls Idee. Und überdies: "Poesie und Lyrik haben etwas Tröstendes in diesen schweren Zeiten."

Schauspieler Daniel Brühl bei der Eröffnungsgala der Berlinale 2020
Schauspieler Daniel Brühl rief eine Poesie-Aktion ins LebenBild: Reuters/A. Hilse

An einem monumentalen Projekt haben sich "in Tagen des Ausnahmezustands" 120 österreichische Kulturschaffende beteiligt, darunter so bekannte wie die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der Schauspieler Klaus Maria Brandauer und der Kulturphilosoph Alexander Kluge. Nacheinander haben sie am Karfreitag "Die Pest" von Albert Camus live vorgelesen. Die rund zehnstündige Marathonlesung ist in Abschnitte unterteilt bis zum 10. Mai online abrufbar - und nebenbei hoffen die Initiatorinnen dabei auch auf Spenden. In diesem Fall sollen sie den vielen durch die Einschränkungen infolge der Corona Krise existentiell gefährdeten Autoren und Autorinnen zugutekommen.

Die aktuelle Krise hat der Literatur mit solchen Formaten neue Räume eröffnet, virtuell, aber in ihrer Wirkung real. Dabei ist die Netzöffentlichkeit bekannter Schriftsteller und Schauspieler nicht nur ein Segen für mögliche Spendenempfänger. Sie lässt auch die Vorfreude wachsen auf lustvolle Begegnungen unter lebendigen Menschen, den Fans von Literatur und deren Produzenten. Und sei es bei einer herkömmlichen Wasserglaslesung, bei der der Autor - ganz ohne Zusatzevent - aus seinem Buch vorliest und ab und zu an seinem Wasser nippt.