Libyen: Die Gestrandeten von Zuwara
29. November 2018Es ist leicht, sie zu erkennen. Tag für Tag stehen sie entlang der Straße, die in der Stadt Zuwara im äußersten Nordwesten Libyens vom Platz der Märtyrer bis zur Moschee verläuft. Letztere liegt seit dem Bürgerkrieg in Ruinen. Die Migranten, die auf einen Job als Tagelöhner auf dem Bau oder als Reinigungskraft warten, bilden einen Kreis, als ich sie anspreche. Und es hagelt Fragen: "Stimmt es, dass Italien seine Häfen für Migranten geschlossen hat? Ist die libysche Küstenwache so effektiv wie es heißt? Gibt es überhaupt noch Rettungsboote?"
Weiter nach Europa - oder doch zurück in die Heimat?
Der 21-jährige Emile berichtet von seiner Flucht. 2015 habe er seine Heimat Guinea verlassen. Über den Senegal, Gambia, Mali, Algerien sei er nach Marokko gekommen. Von dort startete er einen ersten Versuch, Europa zu erreichen. "Ich habe es in Tanger per Fähre probiert und dann mit einem Boot nach Ceuta. Nach dem dritten Versuch hat mich die marokkanische Polizei mit vielen anderen in ein Auffanglager in Casablanca gesteckt", erzählt er.
Als er frei kam, durchquerte er die algerische Wüste, um nach Libyen zu gelangen. Hier wurde er einmal entführt und zweimal verhaftet. Emile sagt, er sei mit der harten Politik des italienischen Innenministers Matteo Salvini vertraut. Er weiß, es gebe "weit mehr libysche Küstenwachen als NGOs". Trotzdem: Er will bald den Seeweg riskieren.
Aber nicht jeder sieht das so. Sammy hat mehrere Monate verzweifelt versucht, Geld aufzutreiben, um es auf ein Schlauchboot zu schaffen, das Richtung Norden, Richtung Europa fährt. Der 23-Jährige hat mittlerweile resigniert. "Ich möchte mich einfach nur bei UNHCR [Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.] registrieren, damit ich zurück nach Nigeria geschickt werden kann. Aber das habe ich meinen Eltern noch nicht erzählt", sagt Sammy.
Die aktuelle Entwicklung verfolge er im Internet. "Diejenigen von uns, die Englisch sprechen, bekommen Informationen. Aber die, die nur Französisch oder Arabisch können - wie die dort drüben - bekommen kaum mit, was vor sich geht", sagt Sammy und zeigt auf eine Gruppe Sudanesen in der Nähe.
Männer, Frauen, Kinder, Babys
Die Migranten, die die Polizei erwischt, kommen ins örtliche Auffanglager. Das war im vergangenen Jahr im ehemaligen Gefängnis von Zuwara eingerichtet worden. Anwar Abudi ist der Lagerleiter. Laut ihm leben hier momentan 300 Menschen, die meisten aus Sub-Sahara-Afrika. Unter ihnen seien 25 Frauen und sieben Kinder, einschließlich eines Neugeborenen. Einen Tag zuvor hat Abudi selbst die junge Nigerianerin ins Krankenhaus gebracht, damit sie dort gebären kann.
"Jede internationale Hilfe, ob Geld, Material oder Fahrzeuge, muss zuerst nach Tripolis. Wegen der Korruption kommt hier dann nichts mehr an", sagt er, während er durch die Gebäudetrakte, getrennt für Männer und Frauen, läuft. Einige der Insassen beschweren sich über die schlechten Bedingungen im Lager, aber keiner berichtet von Misshandlungen durch die Aufseher.
Abudi berichtet, dass in diesem Jahr drei Viertel der Insassen in ihre Heimat zurückgeschickt wurden. "Verzögerungen sind normal", sagt er. Derzeit seien auch drei Männer aus dem Jemen und ein Syrer unter den Bewohnern des Lagers. Während die Rückreise für den Syrer bereits in Arbeit sei, wissen die Jemeniten nichts über ihr Schicksal, wie sie berichten. "Zurück in den Jemen? Ich habe seit mehr als einem Jahr nichts mehr von meiner Familie gehört. Ich frage mich, ob dort überhaupt noch jemand am Leben ist", sagt der 19-jährige Abed.
Gaddafi-Anhänger halten Zuwara in Atem
Zuwara liegt im Nordwesten Libyens und ist die einzige Berber-Enklave an der Küste. Der Ort ist umringt von arabischen Dörfern, wo Anhänger des 2011 getöteten Muammar al-Gaddafi immer noch das Sagen haben. Aber das ist nur eines von vielen Themen, die die Stadt umtreibt.
Sadiq Jiash leitet den Notfallausschuss von Zuwara und berichtet von einer wachsenden Problem-Liste: Umweltschäden durch verlassene petrochemische Anlagen im Westen oder Dutzende vertriebener Tuareg-Familien, die aus dem Süden kommen, sind nur zwei Beispiele. Dann gibt es in Zuwara noch Probleme durch den Ölschmuggel über die tunesische Grenze und - wie könnte es anders sein - Menschenhandel.
"Die maskierten Männer"
Zuwara war einst der Hauptausgangspunkt für Migranten, die nach Europa wollten - bis die Behörden 2015 eine Brigade ins Leben riefen, die der Krise Herr werden sollte. Diese Gruppe wird "Die maskierten Männer" genannt. Seit 2015 landeten denn auch dutzende Schleuser im Gefängnis, und der Menschenhandel nahm signifikant ab. Im vergangenen Jahr wurde die Einheit aber verlegt, um die Grenze zu Tunesien zu überwachen - der Strand blieb wieder unbeaufsichtigt. Die Menschenhändler konnten ihr Glück kaum fassen.
Zwei Männer, die nach eigenen Angaben Migranten über das Mittelmeer nach Europa schmuggeln, berichten der Deutschen Welle von ihren Geschäften. Einer von ihnen habe mehr als 7000 Menschen in den vergangenen 15 Jahren nach Europa gebracht - außer in den neun Monaten, in denen er in Zuwara im Gefängnis saß, nachdem die "maskierten Männer" ihn festgenommen hatten. Er sagt, er sei frei gekommen, nachdem er 150.000 Dinar bezahlt habe (94.000 Euro).
Menschen- statt Ölschmuggel
Der zweite Schleuser stellt sich als "ganz gewöhnlichen Typen aus Zuwara" vor. Er gibt an, bis vergangenes Jahr Öl mit maltesischen Schiffen geschmuggelt zu haben. Als jedoch im Oktober 2017 die maltesische Journalistin Daphne Caruana ermordet wurde, die einen Korruptionsskandal recherchierte, in den auch hochrangige Politiker in Malta verwickelt gewesen sein sollen, änderte sich die Lage. Nach dem Mord sei der Seeverkehr um Malta viel strikter kontrolliert worden. Der Libyer sei "gezwungen" gewesen, auf Menschenhandel umzuschwenken, nachdem das Öl "keine brauchbare Option" mehr gewesen sei.
"Meine Preise schwanken zwischen 2000 und 8000 Dinar - je nach Hautfarbe: Je dunkler, desto günstiger. Somalier zahlen also viel weniger als Marokkaner", berichtet der Schleuser. Ob er sich für den Tod der Migranten im Mittelmeer verantwortlich fühle? So etwas sei ihm noch nicht passiert, sagt er. "Meine Boote sind nie überfüllt und ich bleibe während der ganzen Reise per Satellitentelefon mit meinen Kunden in Kontakt."