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"Russland hat diverse Abkommen verletzt"

Monika Griebeler, z.Zt. Vilnius23. Mai 2014

Eine ständige NATO-Präsenz in ihren Ländern, das fordern die baltischen Staaten. Litauens Außenminister Linas Linkevičius erklärt im DW-Interview warum - und wie sich Europa nach der Wahl in der Ukraine verhalten sollte.

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Litauens Außenminister Linas Linkevicius (Foto: DW/M. Griebeler)
Bild: DW/M. Griebeler

DW: Minister Linkevičius, Anfang der Woche verkündete Russlands Präsident Putin, dass die Truppen von der Grenze zur Ukraine zurückgezogen werden. Sind Sie erleichtert?

Linas Linkevičius: Nein, denn es gab in der Vergangenheit schon ähnliche Aussagen und sie wurden nie umgesetzt. Ich hoffe, dass sie dieses Mal wahr werden. Denn natürlich müssen die Truppen abgezogen werden. Ihre Anwesenheit schafft zusätzliche Spannungen in einer Region, wo die ohnehin schon angespannt ist. Ich bin erst erleichtert, wenn der Abzug vollbracht ist.

In den baltischen Staaten machen sich die Menschen große Sorgen, haben regelrecht Angst vor Russland. Vermissen Sie eine entschlossenere Haltung Ihrer europäischen Partner wie Deutschland oder Großbritannien?

Ich habe keinen Grund, an den Sicherheitszusagen von NATO und EU zu zweifeln. Aber Sie haben Recht: Die Menschen sind unsicher, weil sie die Verletzungen internationaler Vereinbarungen in unserer Nachbarschaft sehen. Da ist es schwierig abzusehen, womit wir rechnen müssen. Wir brauchen mehr vertrauensbildende Maßnahmen. Die jüngste Verstärkung der Luftraumüberwachung und die Übungstruppen, die unsere Verbündeten zur Verfügung gestellt haben, waren sehr nützlich. Aber es sollte mehr passieren: Eine ständige Präsenz würde mehr Vertrauen schaffen. Wir glauben fest, dass das in absehbarer Zeit geschehen wird.

Warum ist eine solche ständige Präsenz für Sie und Ihre Kollegen in Estland und Lettland so wichtig?

Weil es sie bisher nicht gibt. Ein Grund dafür ist das NATO-Russland-Abkommen aus dem Jahr 1997, in dem die NATO sich verpflichtete, keine - ich zitiere - "wesentliche militärische Präsenz auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsländer" zu haben. Das war eine einseitige Verpflichtung.

Bewaffneter Mann in Kramatorsk in der Ostukraine (Foto: Getty Images)
Die Krise in der Ukraine sorgt für Angst in LitauenBild: Viktor Drachev/AFP/Getty Images

Aber seitdem hat Russland alle möglichen Verträge gebrochen. Deshalb denke ich, dass diese Festlegung nicht mehr respektiert werden sollte. Sie wurde unter ganz anderen Umständen geschlossen: Die Idee war, eine Partnerschaft aufzubauen, basierend auf bestimmten Werten, Prinzipien und nationalen Pflichten. Das ist jetzt zerstört - und, ehrlich gesagt: Wenn es für die Sicherheit der Mitgliedsstaaten, für die Sicherheit der Allianz von Bedeutung ist, dann sollte das Abkommen überprüft und geändert werden.

Die Pläne zur Verteidigung werden ja derzeit überprüft, könnten also künftig Ihre Forderungen enthalten. Auf was genau hoffen Sie dabei?

Wir sollten angemessen auf diesen Konflikt reagieren: Truppen, die ohne Abzeichen auf das Gebiet souveräner Staaten geschickt werden, das Leugnen ihrer Anwesenheit und die offensiven Propagandakampagnen - das ist etwas, auf das wir vorbereitet sein sollten. Ähnlich sieht es beim Thema Energiesicherheit aus: Wir sehen jetzt, dass hier ein Hebel angesetzt werden kann, um politisch Druck zu machen. Das hat sich verändert. Die NATO sollte bereit sein, diesen neuen, modernen Herausforderungen angemessen zu begegnen.

Aber Stärke zu zeigen und mehr NATO-Truppen ins Baltikum zu schicken - könnte das nicht einen neuen Kalten Krieg weiter befeuern?

Nein! Denn es geht nicht um eine Militarisierung über große NATO-Einheiten. Ich rede über ein vernünftiges Maß an Präsenz, die es bislang ja überhaupt nicht gibt. Schon ein Minimum könnte dazu führen, dass einige Strategen auf der anderen Seite sich von dieser merkwürdigen Vorstellung verabschieden, europäische Grenzen neu zu ziehen. Europäische Grenzen im 21. Jahrhundert neu zu zeichnen ist ein sehr, sehr gefährliches Spiel. Wenn dieser Präzedenzfall im Mittleren Osten, in Asien, in Afrika nachgeahmt würde - das wäre eine Katastrophe. Deshalb muss uns klar sein, was wir tun müssen.

Diplomatische Erklärungen, man sei in Sorge oder großer Sorge funktionieren nicht immer. Manchmal muss man klare Worte finden, die für den Gegner unmissverständlich sind. Darum geht es jetzt: Bestätigung geben, existierende Mechanismen stärken und zusätzliche Entsendungen - das wäre eine angemessene Reaktion.

Verstehen die westeuropäischen Länder die Sorge, die Litauen umtreibt?

Ich glaube, meine Kollegen verstehen mehr und mehr, dass die Bedrohung real ist. Was passiert ist, könnte anderswo erneut geschehen.

NATO-Truppen landen in Litauen (Foto: Getty Images)
Linkevičius wünscht sich mehr Präsenz von der NATOBild: AFP/Getty Images

Es gab bereits Lehren, die wir aus dem Krieg 2008 im Kaukasus nicht gezogen haben. Schon dort gab es Präzedenzfälle der Besetzung eines souveränen Staates, Präzedenzfälle der Vergabe von Pässen mit anderen Staatsangehörigkeiten. Aber das wurde nicht entsprechend wahrgenommen und jetzt sehen wir die Folgen. Wenn wir also dieses Mal nicht rechtzeitig handeln, werden wir einen weiteren Präzedenzfall haben. Und sollten dann nicht überrascht sein.

Russland hat Verträge gebrochen, sagen Sie. Russland sagt, es sei durch Manöver wie "Steadfast Jazz" im Jahr 2013 provoziert worden. Ist das nicht ein Teufelskreis?

Übungen sind keine Provokation. Artikel 5 des NATO-Vertrages umzusetzen, ist keine Provokation. Ich glaube vielmehr, dass es eine Provokation war, zehn Jahre lang keine Artikel-5-Übungen zu machen, nur weil jemand sagt: "Das provoziert zu sehr." Während die andere Seite das jede Woche macht, selbst jetzt, während wir miteinander sprechen. Manchmal machen wir uns zu Anwälten unserer Gegner - das finde ich schon hin und wieder peinlich.

Ist die NATO also zu vorsichtig?

Zu entspannt, würde ich sagen. Ich meine nicht, dass wir aggressiv werden sollten. Ich rede vielmehr von Beständigkeit: Wenn wir etwas entscheiden, dann sollten wir es auch umsetzen. Unser Verhalten wird nicht als Höflichkeit, sondern als Schwäche wahrgenommen. Das sollte endlich verstanden werden.

Wird die Präsidentschaftswahl am Sonntag in der Ukraine denn zumindest ein paar der Probleme lösen?

Ja, und zwar sehr wichtige, denn wir brauchen eine dauerhaft funktionierende Gewaltenteilung. Damit wäre für die Stabilität des Landes viel erreicht. Ich wünsche mir, dass die Wahlen ohne Störungen von außen stattfinden: ohne Einmischung vom Nachbarland. Genau deshalb bestehen nämlich aktuell diese Schwierigkeiten.

NATO-Militärübung im Baltikum (Foto: Getty Images)
NATO-Übungen in Grenznähe empfindet Russland als ProvokationBild: Raigo Pajula/AFP/Getty Images

Die Gespräche am Runden Tisch haben bislang keine große Verbesserung gebracht. Was könnten die nächsten Schritte sein?

Es ist gut, dass die ukrainische Regierung offen für diese Gespräche ist. Nach der Wahl, wenn alle Strukturen etabliert sind, wird sie in der Lage sein, das Land wieder unter Kontrolle zu bekommen und einige Verpflichtungen zu erfüllen: eine Dezentralisierung des Landes und eine Verfassungsreform inklusive eines Dialoges mit allen Ukrainern. Das ist der richtige Weg. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass alles von ihnen selbst vollbracht werden sollte - und nicht von Außenstehenden.

Also sollten sich auch die Europäer aus dem Prozess raushalten?

Wir sollten nicht für sie entscheiden, welchen Weg sie gehen. Die Zeit, in der große Staaten über das Schicksal von kleinen Staaten entschieden haben, ist vorbei.

Linas Linkevičius ist seit Dezember 2012 Außenminister der Republik Litauen. Zuvor arbeitete er als ständiger Vertreter Litauens bei der NATO in Brüssel. Von 1993-1996 und 2000-2004 war Linkevičius litauischer Verteidigungsminister. Der heute 53-Jährige wurde erstmals 1992 ins Parlament gewählt.

Das Interview führte Monika Griebeler.