Trauer um Alice Munro - die Großmeisterin der kleinen Form
14. Mai 2024"Dear Life" ("Liebes Leben") hatte Alice Munro ihren letzten Erzählband genannt (2012). Doch was klang wie eine freundliche Lebensbilanz, war in Wirklichkeit eine Ansammlung zum Teil autobiographischer Schilderungen, mit denen die Autorin in die Abgründe der eigenen Biografie blickte.
Insgesamt 13 Bücher mit Kurzgeschichten und einen Romanversuch hatte Alice Munro geschrieben, bevor sie 2013 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde - als erste Kanadierin überhaupt. Die Reise nach Stockholm konnte sie nicht antreten. Dafür schickte sie eine berührende Videobotschaft.
Alltagsthemen: Das Große im Kleinen
Munros Geschichten kreisten stets um das Alltägliche. Sie schrieb über Schicksale von Frauen ohne feministisch zu wirken. Da ging es um Frauen in der kanadischen Provinz, um Mütter und Töchter, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. Munro beschrieb das vermeintlich Gewöhnliche - Kinder, Ferienlager, Ehe, Provinz.
"Munro schreibt über ungelöste Sehnsüchte, die man sein Leben lang mit sich herumträgt, und über den Umgang damit. Es sind die kleinen Dinge, die sie groß macht", so Hans-Jürgen Balmes vom Verlag S. Fischer, der Munros Bücher in Deutschland vertreibt, gegenüber der Deutschen Welle.
Oder wie es die Literaturkritikerin Sigrid Löffler einst gegenüber der DW ausdrückte: ″Ihre Kunst besteht darin, dass sie ein ganzes Menschenleben auf einer Buchseite unterbringen kann. Ihre Erzählungen, die oft nicht über mehr als 20 bis 30 Seiten verfügen, füllt sie mit mehr Leben als andere auf 700 Seiten."
Auch in Deutschland sehr beliebt
In Kanada und Großbritannien sind ihre Bücher schon lange Bestseller. "In ihrer Heimat war sie immer die große Heldin der kanadischen Literatur und die Rivalin von Margaret Atwood", so Verlagssprecher Balmes. In Deutschland verhalf ihr dann der Literaturnobelpreis schlagartig zu großer Beliebtheit.
Munro war eine Spätstarterin. Erst mit 40 brach sie schreibend in die Welt der Literatur auf, doch im Gepäck hatte sie reichlich Lebenserfahrung. Erst zog sie ihre drei Kinder groß, bevor sie sich Ende der 1960er Jahre voll und ganz dem Schreiben widmete.
Gleich für ihren ersten Band Kurzgeschichten ("Dance of the Happy Shades", 1968) erntete sie Anerkennung - durch Kanadas höchsten Literaturpreis, den Governor General's Award for Fiction.
Ihre Form: die Kurzgeschichte
Munros Short Stories erlangten eine hohe sprachliche und emotionale Dichte. "The Love of a Good Woman" (1998) - auf Deutsch in zwei Bänden 2000 und 2002 erschienen - und "Runaway" (2004/deutsch 2006) führten dazu, dass Munro 2009 den britischen Man Booker Preis erhielt, und damit den ersten Ritterschlag des internationalen Literaturbetriebs.
Ihre Form blieb zeitlebens die Kurzgeschichte - mit einer Ausnahme: Mit "Lives of Girls and Women" (deutsch: "Kleine Aussichten") versuchte sie sich an einem Roman. Doch Kritiker verstanden das Werk eher als Kurzgeschichtenzyklus.
Die Autorin selbst haderte mit sich - trotz ihres internationalen Erfolgs: "Was habe ich mich gequält bei Versuchen, einen Roman zu schreiben", sagte sie 2006 in einem ihrer seltenen Interviews, "bis ich irgendwann realisiert habe, dass die Kurzgeschichte die mir gemäße Form des Schreibens ist."
An diesem Montag ist Alice Munro hochverehrt im Alter von 92 Jahren gestorben. Mit ihr verliert die Welt einen Seismograph der kleinen, in Wahrheit aber großen Dinge. Was bleibt, sind ihre Bücher.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines früheren Artikels.