Massenausbruch aus Auffanglager auf Lampedusa
24. Januar 2009Rund 700 Flüchtlinge haben am Samstag (24.01.2009) die Tore und Zäune des Auffanglagers für illegale Einwanderer überwunden und sind in einem Protestzug vor das Rathaus der kleinen italienischen Mittelmeerinsel geströmt. Unter dem Beifall der Bevölkerung riefen sie "Freiheit, helfen Sie uns", wie Bürgermeister Bernardino De Rubeis zu berichten wusste. "Die Spannungen sind groß", beschrieb De Rubeis die neue Eskalation und den neuen Beweis einer immer unerträglicheren Notlage. Er hatte schon vor Tagen vor einem Aufruhr gewarnt.
Für Aufsehen gesorgt hatten auch Medienberichte über eine angebliche Anwendung von Elektroschocks und chemischer Ruhigstellung von Lagerinsassen. Flüchtlingsgruppen und Oppositionspolitiker hatten scharfe Vorwürfe gegen das Innenministerium erhoben.
Unmut über Berlusconi-Äußerungen
Regierungschef Silvio Berlusconi erklärte in Rom, die Lage sei unter Kontrolle. Unmut und Verwunderung lösten seine Bemerkungen aus, die Flüchtlinge könnten keinen Schaden anrichten, da sie bei stürmischer See nirgendwo hin könnten. Es stehe den Insassen "jederzeit frei, ein Bier trinken zugehen".
Dem widersprach das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Auch ein Sprecher von "Ärzte ohne Grenzen" betonte, das Auffanglager sei bewacht und niemand könne es auf eigene Faust verlassen. Der italienische Flüchtlingsrat CIR erklärte, es handele sich "de facto um ein Abschiebe-Haftlager".
Das Lager ist seit Wochen hoffnungslos überfüllt. Obwohl es nur für 850 Menschen ausgelegt ist, waren dort in den vergangenen Tagen zeitweise mehr als 1800 Menschen untergebracht. Vereinzelt ist auch von 2000 die Rede. Nach Angaben des UNHCR müssen hunderte Flüchtlinge in dem Lager unter Plastikplanen im Freien schlafen.
Einheimische schlossen sich dem Widerstand an
Die Inselbewohner solidarisierten sich mit den Flüchtlingen. Einige von ihnen applaudierten und schlossen sich dem Protestzug an, wie TV-Korrespondenten berichteten. Am Freitag hatten 3000 der insgesamt 6000 Bewohner von Lampedusa gegen ein neu eröffnetes Identifikations- und Abschiebungszentrum auf der Insel demonstriert.
Während die Bootsflüchtlinge bisher nach nur wenigen Tagen von Lampedusa auf das Festland gebracht wurden, hatte Italiens Innenminister Roberto Maroni angesichts der massiven Flüchtlingsströme direkte Rücktransporte von der Insel nach Nordafrika oder in die Herkunftsländer angekündigt. Entsprechende Abkommen mit den Maghreb-Staaten, vor allem mit Libyen, sollen schon in den nächsten Tagen geschlossen werden.
Die Einheimischen erwarten durch ein zweites Lager neue Schwierigkeiten und fürchten zudem das völlige Versiegen des Tourismus durch den schlechten Ruf ihrer Insel.
Afrikanische Odyssee über das Mittelmeer: 1500 Tote
Lampedusa - rund 200 Kilometer südlich von Sizilien - ist ein Hauptanlaufpunkt für Bootsflüchtlinge aus Afrika. Im vergangenen Jahr trafen dort nach Angaben des italienischen Innenministeriums knapp 31.700 Immigranten ein und damit 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Selbst im Winter stranden fast täglich Asylsuchende in der Region. Die zum Großteil aus Afrika stammenden Flüchtlinge fahren meist in nicht hochseetauglichen Booten über das Mittelmeer, um in die Europäische Union zu gelangen. Dabei kamen 2008 nach Schätzungen der Hilfsorganisation Fortress mindestens 1500 Menschen ums Leben.
Die EU-Kommission in Brüssel zeigte sich betroffen. Justizkommissar Jacques Barrot kündigte eine Inspektionsreise an. Auch Abgeordnete des Europäischen Parlaments zeigten sich alarmiert und sprachen von einer "menschenunwürdigen Asylpolitik". Der deutsche Alexander Graf Lambsdorff (FDP) meinte, all dies sei "Ausdruck einer bornierten, ideologisch verbohrten, konservativen Zuwanderungspolitik". Schließlich gebe es "Mindeststandards" in der EU. (sc)