Max Frisch 100. Geburtstag
3. Juni 2011Max Frisch (15.5.1911 - 4.4.1991) gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit. Sein Theaterstück "Andorra" (1961), eine Studie über die Kraft des Vorurteils, ist eines der meistgespielten deutschsprachigen Dramen dieses Jahrhunderts. Seine Romane "Homo Faber" (1957) und "Mein Name sei Gantenbein" (1964) waren international erfolgreich und gehören längst zur festen Schullektüre. In "Homo Faber", 1991 von Volker Schlöndorf verfilmt, charakterisiert Frisch den modernen Typus des technikorientierten, rationalen Menschen - und lässt ihn tragisch scheitern. Ich-Findung und Identität sind seine Themen, die in ihrer Aktualität auch heute noch immer wieder junge Leser ansprechen.
Volker Weidermanns 400 Seiten starke Biografie "Max Frisch, sein Leben, seine Bücher" ist ein lebendiges, aber keineswegs unkritisches Porträt, für das sich der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auch mit ehemaligen Weggefährten und Gefährtinnen des Dichters getroffen hat. Denn Frisch war nicht zuletzt bekannt und berüchtigt für seine vielen Liebschaften mit meist jüngeren Frauen, die er zum Teil in seiner autobiografischen Erzählung "Montauk" (1975) auftreten ließ.
DW-WORLD.DE: Volker Weidermann, Sie haben auch die einstige Ehefrau von Max Frisch, Marianne, und eine ehemalige Geliebte aufgesucht. Wie sind denn diese Treffen verlaufen?
Volker Weidermann: Es führt ein bisschen zum Kern von Max Frischs Schreiben und Leben. Denn sein Schreiben war immer sehr sehr stark autobiographisch geprägt. Geprägt von dem Leben, das er lebte, den Frauen, mit denen er lebte. Und er hat sie in seinen Büchern verarbeitet, obwohl sie es ihm immer wieder verboten haben. Aber das gehörte zu seinem Schreiben dazu. Am bewegendsten für mich war vielleicht die Begegnung mit der Geliebten, die in "Montauk" Lynn heißt. In Wirklichkeit heißt sie Alice (Locke-Carey). Ich habe sie in Amerika getroffen und sie ist, seit sie vor sechsunddreißig Jahren mit Max Frisch ein Wochenende in Montauk verbrachte, zum ersten Mal wieder dorthin gefahren. Sie hat mit mir die Orte der Erzählung, die Orte des Geschehens von damals aufgesucht. Und das hat sie sehr bewegt und aufgerüttelt, durchgerüttelt, diese Begegnung mit der Vergangenheit und für mich war es natürlich eine wunderbare Begegnung, eine Art Anknüpfungspunkt an die Literatur, an die Vergangenheit.
Was hat sie denn über Max Frisch erzählt?
Sie hat von dem Zauber von Max Frisch natürlich erzählt. Wie er um sie geworben hat. Und wie er - eine klassische Schriftsteller-Erfindung kann man es fast nennen - wie er sie für sich gewonnen hat. Indem er ihr eine fantastische Geschichte, eine fantastische Erfindung ihres Lebens erzählt hat, dass sie ihn geradezu unwiderstehlich fand und tatsächlich ein sehr romantisches Wochenende mit ihm in Amerika verbracht hat.
Was hat denn seine Exfrau über ihn erzählt? Gab es da etwas, das Sie besonders verblüfft hat?
Mich hat schon die Radikalität verblüfft, mit der Max Frisch sein Leben verarbeitet hat. Auch gegen das Verbot, das gerade seine Frau Marianne Frisch ausgesprochen hat. Und er hat auch noch viel weiter gemacht: er hat dann später die Erzählung "Montauk" geschrieben, wo sie vorkommt, wo ihre eigenen Ehebrüche explizit vorkommen. Und er hat später immer noch weiter geschrieben, nachdem es zu einer dramatischen Szene gekommen war als sie das Manuskript von "Montauk" gelesen hatte. Da hat er ein Tagebuch geführt, ein Tagebuch ihrer Ehe. Dieses Leben unter ständiger Schriftsteller-Beobachtung, unter ständiger Bedrohung einer kommenden Öffentlichkeit, die über die intimsten Momente ihres Lebens erfahren wird - das fand ich tatsächlich überraschend. Dieses Tagebuch ist bislang noch nicht veröffentlicht. Es liegt in einem Schweizer Tresor. Aber in diesem Sommer soll der Tresor geöffnet werden. Und dieses Damoklesschwert schwebt ein ganzes Leben lang über Marianne Frisch, die jetzt Anfang siebzigjährig in Berlin lebt und auf dieses Tagebuch etwas zitternd wartet.
Wenn man sich mit den Anfängen von Max Frisch beschäftigt, hat man den Eindruck, dass er eine eher farblose Persönlichkeit ist. Aber im Weiteren sprechen Sie von einer Ich-Explosion. Was meinen Sie damit?
Er war tatsächlich ein etwas angepasster Schweizer. Er war ein sehr konservativer Schweizer, man kann ihn auch politisch rechts verorten. Er hat außerordentlich kitschige Bücher geschrieben, von denen man, wenn man sie heute liest, gar nicht glauben kann, dass sie von demselben Autor geschrieben sind wie später der "Stiller" oder "Homo Faber". Und dann irgendwann im Krieg – die Begegnung mit Bertolt Brecht, die Begegnung mit dem Theater und das eigene Architekturstudium spielten eine wichtige Rolle - hat er mit diesem Reifeprozess plötzlich zu dem Stil gefunden, zu dem Max Frisch gefunden, den wir heute kennen. Am Anfang stand ein Buch, das 1945 erschienen ist "Ich oder die Reise nach Peking". Das spielt schon die späteren Max Frisch-Themen durch: Sehnsucht, ein anderer zu sein, Sehnsucht nach einem anderen Leben, Sehnsucht nach einer anderen Biographie. Und das ist plötzlich ein neuer Stil. Der beinahe kühle, radikal selbst entblößende Stil, den wir vom späteren Max Frisch kennen.
Wie aktuell ist Max Frisch an seinem 100. Geburtstag?
Es geht immer um dieses Schlagwort Identität - Max Frisch selbst hat es nie gebraucht - aber es bedeutet: 'wie erfinde ich mich selbst?' 'Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?' Diese Fragen stehen im Zentrum von Max Frischs Werk. Und natürlich ist diese Frage in Zeiten des Internet, in Zeiten von Facebook und in Zeiten von multiplen Lebensentwicklungsmöglichkeiten, aktueller denn je. Weshalb mir auch beim Lesen der Bücher von Max Frisch diese Werke heute noch so nahe gehen. Weil diese Fragen einfach bis heute nicht gelöst, nicht beantwortet sind.
Das Gespräch führte Gudrun Stegen
Redaktion: Gabriela Schaaf
Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer & Witsch, 408 S. 22,95 €; ISBN-13: 9783462042276