Eine Frage der Ethik
23. Mai 2013"In Indien leben viele Menschen in großer Armut, das heißt, sie haben bei mangelhafter staatlicher Gesundheitsversorgung kaum eine Möglichkeit, medizinische Versorgung zu bekommen, weil sie das aus eigener Tasche bezahlen müssten und das oft einfach nicht können", sagt Christian Wagner-Ahlfs. Er ist Chemiker und arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei der BUKO Pharma-Kampagne. Die Organisation untersucht die Aktivitäten der Pharmaindustrie in der Dritten Welt. Wagner-Ahlfs wirft den Konzernen vor, in ethisch fragwürdiger Weise die Not der Menschen auszunutzen: "Wenn sie jetzt die Möglichkeit erhalten, im Rahmen einer klinischen Studie eine medizinische Behandlung zu bekommen, ist das natürlich ein sehr lockendes Argument."
Die Pharma-Lobby weist diese Vorwürfe zurück, kann aber nicht ausschließen, dass es vereinzelt schwarze Schafe bei den vor Ort mit den Studien beauftragten Forschungseinrichtungen gibt. In bevölkerungsreichen Ländern wie Indien und China sei es leichter, geeignete Probanden mit den entsprechenden Krankheiten zu finden. Die müssten vorher den Tests zustimmen, heißt es von Seiten des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa). So sagt Rolf Hömke vom vfa: "Pharma-Konzerne können sogar mithelfen, diese Defizite in der Gesundheitsversorgung zu beheben, indem sie Kliniken und andere Einrichtungen mit moderner Technik und Personal ausstatten."
Vorgaben für Medikamententests
Medikamente, die Menschen helfen sollen, müssen an Menschen getestet werden. Darüber besteht in der Wissenschaft uneingeschränkt Einigkeit. Bis ein Präparat so weit ist, durchläuft es einen langen Entwicklungsprozess. Für die letzte Phase der klinischen Tests am Menschen gibt es dabei eindeutige Bestimmungen: Die World Medical Association (WMA), in der sich Ärzte-Organisationen aus mehr als 100 Ländern zusammengeschlossen haben, hat in der "Deklaration von Helsinki" genaue Standards festgelegt, nach denen neue Medikamente getestet werden dürfen:
Patienten müssen ausführlich über die Studie informiert werden, die Teilnahme ist freiwillig und sie dürfen jederzeit ohne Angabe von Gründen aussteigen. In einer Erklärung, der sogenannten "informed consent form", müssen die Patienten dies mit ihrer Unterschrift bestätigen. Außerdem muss geklärt sein, in welcher Form die Patienten nach Ende der Studie weiter medizinisch versorgt werden, betont WMA-Generalsekretär Otmar Kloiber: "Das kann bei chronischen Erkrankungen wichtig sein. Patienten dürfen nicht als Versuchskaninchen angesehen und verlassen werden, wenn der Versuch vorbei ist."
Weniger Studien, mehr Kontrolle
Allein der Arzneimittelkonzern Boehringer-Ingelheim arbeitet eigenen Angaben zufolge aktuell an 125 klinischen Studien in 72 Ländern, an denen mehr als 70.000 Probanden teilnehmen werden. Andere Unternehmen dürften ähnliche Zahlen vorweisen können. "Viele Studien sind unnötig, weil Medikamente entwickelt werden, wo schon absehbar ist, dass sie keinen großen Fortschritt für die Therapie bringen werden", kritisiert Christian Wagner-Ahlfs von der BUKO Pharma-Kampagne. Viele Präparate unterschieden sich nur geringfügig in ihrer Zusammensetzung von bereits bestehenden. "Die werden nur gemacht, um wieder neuen Patentschutz zu erlangen und damit höhere Gewinne erzielen zu können."
Hinzu komme die Tatsache, dass Studienteilnehmer aus ärmeren Ländern zwar ihre Gesundheit für die Entwicklung des Medikaments hergeben, sich aber später das Präparat auf dem freien Markt nicht mehr leisten könnten. "Das ist ein großes ethisches Problem", so der promovierte Chemiker.
Keine "Auslagerung" von Studien
Der Vorwurf, die Pharma-Unternehmen würden die Mehrzahl der Studien aus Kostengründen nach Afrika oder Asien auslagern, weist der Verband Forschender Arzneimittelhersteller zurück. Einer US-Statistik zufolge starteten im vergangenen Jahr allein in den USA 2590 von Pharma-Herstellern initiierte Studien, in Deutschland 715, in Großbritannien, Kanada und Frankreich jeweils ca. 500. In China und Indien dagegen waren es jeweils weniger als 200.
Damit die Kriterien für Medikamententests weltweit möglichst identisch sind, haben die staatlichen Kontrollbehörden der USA, Europas und Japans seit den 1970er Jahren die Richtlinie für "Good Clinical Practice" erarbeitet. Die großen Pharma-Unternehmen haben sich zur Einhaltung dieser nach ethischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten entwickelten Kriterien verpflichtet. Das geschieht auch aus Eigeninteresse: Denn nur wenn sie nachweisen können, dass sie diese Standards erfüllt haben, dürfen sie ein neues Medikament bei den Zulassungsbehörden zur Genehmigung einreichen.