Mein Berlinale-Tagebuch 4
15. Februar 2010Das treibt mich auch bei meiner 27. Berlinale noch um. Dass sich die, die über die Filme in Zeitungen und im Netz schreiben, im Radio berichten oder im Fernsehen sprechen, eigentlich nie einig sind. Da wird über die Filme gestritten und debattiert, es werden Punkte und Sternchen vergeben, Bewertungslisten aufgestellt, dass es eine Freude ist. Doch wer nun glaubt, als interessierter Kinogänger könne man sich ein paar Tipps für die Berlinale holen von klugen und erfahrenen Schreiberlingen, der irrt gewaltig.
Glauben Sie mir
"Ein gut abgehängtes Stück Mainstreamkino, etwas behäbig, nie brisant", so fällt das Urteil über den neuen Roman Polanski-Film "The Ghostwriter" in einer großen Tagezeitung aus, eine andere meint dagegen, der Film blicke "der Paranoia ins Herz", "The Ghostwriter" sei "ein perfekter Thriller und ein kluges Politikstück gleichermaßen".
Solche diametral entgegengesetzte Meinungen lassen sich hier über jeden Film finden. Glauben Sie es mir. Genauso ist es auch, wenn man mit all den Kollegen spricht, nach dem Kino, in den Cafés rund um den Potsdamer Platz.
Ein Tiefpunkt
Kurzer Exkurs zum Bärenwettbewerb am Sonntag. Der begann mit dem neuen Film des chinesischen Regiestars Zhang Yimou. Der ist seit seinem Goldenen Bären 1988 für "Das rote Kornfeld" eine Legende, leitete dieser Film doch damals den Blick der gesamten Filmwelt auf den Kinokontinent Asien.
Zhang Yimous neuer Film "A Woman, A Gun And A Noodle Shop" ist ein vollkommen missglückter Bastard aus Komödie und historischem Wüstendrama, der gescheiterte Versuch einen erfolgreichen Hollywoodfilm wiederzubeleben und mit chinesischer Kultur zu kreuzen. Peinliche Zoten, ins leere laufende filmische Zitate, ein Tiefpunkt in der Karriere des Regisseurs.
Wunderbarer Ben Stiller
Im Anschluss erwartete mich dann aber eine wunderbare Überraschung. Der amerikanische Independent-Film "Greenberg" von Noah Baumbach bescherte den bisher interessantesten Charakter des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs. Roger Greenberg, wunderbar verkörpert von dem einmal ganz anders agierenden Ben Stiller, ist ein mit den Tücken des Lebens ringender Mann um die 40.
Nach einem Nervenzusammenruch mit anschließendem Klinikaufenthalt ist er in eine tiefe Midlife-Crisis gerasselt. Greenberg ist immer ein wenig neben der Spur. Der Zuschauer weiß nie genau, was ihn im nächsten Moment erwartet. Ein Film abseits des amerikanischen Mainstreamkinos, aber auch nicht auf den ausgetretenen Pfaden der Independents wandelnd.
Wo kommen wir her?
Am Montag wird aber auch sicherlich irgendwo zu lesen sein: "A Woman, A Gun And A Noodle Shop" gelingt es mühelos und elegant chinesisches und amerikanisches Kino miteinander zu verschmelzen. Und über "Greenberg" wird geschrieben werden: ein amerikanischer Film, der sich unsicher zwischen Gesellschaftssatire und Psychodrama bewegt. Oder so ähnlich. Was ich damit sagen will? Wir Kritiker sind auch nur Menschen.
Wir schreiben mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Dass uns alle die Liebe zum Kino eint, bedeutet dabei gar nichts. Viel entscheidender ist etwas anderes. Wo kommen wir her, haben wir einen Partner, gar Kinder? Was machen wir sonst im Leben? Interessieren wir uns auch noch für andere Dinge, für Literatur, für Politik, für Gesellschaft? Was machen wir zwischen den vielen Kinobesuchen, sprechen wir auch über etwas anderes als Filme hier bei der Berlinale?
Also: Lesen Sie ruhig weiter Kritiken, hören Sie im Radio Kinosendungen und schauen Sie sich Filmmagazine an. Doch seien Sie vorsichtig. Trauen Sie uns nicht!
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Marcus Bösch