Mein Europa: Lehren aus Jugoslawiens Ende
24. Juni 2021War es das wert? Ein Jahrzehnt der Kriege? Flucht, Vertreibung? Nein, würden die meisten Bürger der sieben Nachfolgestaaten Jugoslawiens wohl sagen, wenn man ein repräsentatives Kollektiv aus ihnen befragen würde - sowohl unter den Älteren, die das Geschehen erlebt haben, aber auch bei den Jüngeren, die nichts anderes kennen als das postjugoslawische Zeitalter.
Doch ein solches Kollektiv existiert nicht. Es gibt keine jugoslawische Gesellschaft mehr, die es repräsentieren könnte. Fragt man heute Menschen in den einzelnen ehemaligen Teilrepubliken, fallen die Antworten höchst unterschiedlich aus. Entspannt ist die Erinnerung an den Vielvölkerstaat bei einer Mehrheit einzig in Slowenien. Es war okay, ganz gut, um manches ist es auch schade, aber am Ende ging es nicht mehr: Das ist dort die meist verbreitete Formel. Aber war es wirklich okay?
Unter den Albanern in Kosovo gibt es so gut wie keine "Jugo-Nostalgiker". Zu traumatisch ist die Erinnerung an das letzte Jahrzehnt dieses Staates. In Kosovo herrschte bis 1999 zwar kein Krieg, aber Polizeiterror. Offen betrauert wird der Untergang Jugoslawiens dagegen von vielen Zeitgenossen in Serbien, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und sogar - wenn auch eher hinter vorgehaltener Hand oder nach dem dritten Bier - in Kroatien.
In einer großen Umfrage bezeichnete noch mehr als zehn Jahre nach Unabhängigkeit und Krieg eine klare Mehrheit Josip Broz "Tito", die Galionsfigur des vielgeschmähten Jugoslawiens, als den größten Kroaten aller Zeiten. Der Versuch, diese Position durch den Vater der Unabhängigkeit Kroatiens 1991, Franjo Tudjman, zu ersetzen, stieß nicht auf wirkliche Gegenliebe. Stipe Mesic, der zweite Präsident des Landes nach der Unabhängigkeit, hatte sein Erinnerungsbuch stolz betitelt: "Wie wir Jugoslawien zerstörten". Das kam nicht gut an. In der zweiten Auflage hieß dasselbe Werk: "Wie Jugoslawien zerstört wurde".
Verschiedenheit war nicht das Problem
Den Keim seines Untergangs trug das Land schon lange in sich. Nicht die kulturelle Verschiedenheit der Bewohner war das Problem - andere Nationen, von Indien über die Schweiz oder Einwanderungsländer wie die USA, kamen und kommen mit weit größeren Unterschieden zurecht. Das Problem war der Umgang damit.
Im "ersten Jugoslawien" der Zwischenkriegszeit (1918-1941) galt die Parole, dass man nationale, konfessionelle oder kulturelle Gegensätze möglichst ignorieren solle. Das Gegenteil des Erwünschten trat ein: Weil die Unterschiede kein Thema sein sollten, setzte sich die relative Mehrheit, die serbische, nur umso gründlicher durch.
Die Rücksicht der Kommunisten
Nach dem Überfall durch Nazi-Deutschland und dem folgenden, stark ethnisch getönten Bürgerkrieg der 1940er Jahre schworen sich die Kommunisten, den alten Fehler nicht zu wiederholen. Im "zweiten Jugoslawien" (1943-1991) wurde auf alte nationale Identitäten bewusst Rücksicht genommen - und neue wurden gefördert, etwa die der Mazedonier, der Bosniaken, schließlich auch der Roma.
Solange nationale Identität nach sowjetischem Vorbild als Folklore verstanden wurde und für Politik allein die kommunistische Einheitspartei zuständig war, funktionierte dieses System. Aber als der Kommunismus immer fragwürdiger wurde, parlamentarische Demokratie sich weltweit als überlegen erwies, als schließlich auch der Mythos des Partisanenkrieges verblasste, bekamen die nationalen Zugehörigkeiten immer mehr politische Bedeutung.
Ethnizität statt Demokratie
Positionen, Jobs, finanzielle Mittel, Autobahnen, Betriebsansiedlungen - bei allem wurde im sozialistischen Jugoslawien auf den ethnischen "Schlüssel" geachtet. Mehrheitsentscheidungen verboten sich, denn eine Nationalität war immer stärker als die andere. Alles strebte nach optimalem Gleichgewicht. Aber das Gleichgewicht konnte nur labil bleiben. Geriet es ins Rutschen, wie Anfang der 1970er Jahre in Kroatien, sprach Tito ein Machtwort und ließ die Störenfriede einsperren.
Ein möglicher Nachfolger für Tito, den großen Schiedsrichter, hätte eine gelungene Kreuzung aus Vorfahren sämtlicher jugoslawischer Nationalitäten sein müssen. So einen konnte es nicht geben. Im achtköpfigen Staatspräsidium, das die Rolle übernehmen sollte, waren Mehrheitsentscheidungen formal zwar möglich. Aber wenn eine Nation überstimmt wurde, stand immer gleich der Bestand des Staates in Frage. Als Slobodan Milosevic, der serbische "Reform-Präsident", als der er anfangs galt, mit seinem "serbischen Block" die nötige Rücksicht ignorierte, war der Staat tatsächlich am Ende.
Die Logik der Aufteilung
Jugo-Nostalgiker preisen das Vielvölkerstaatsmodell heute wieder als Vorbild; zerstört worden sei das Land wahlweise von einem missgünstigen Ausland oder von böswilligen Politikern. Aber eine Gesellschaft, die ihren Reichtum und ihre Macht nach ethno-nationalen Quoten verteilt, darf sich nicht wundern, wenn die Konflikte zwischen den Ethnien alles beherrschen. Aufteilung war am Ende die logische Folge. An böswilligen Menschen, die das Projekt zu einem blutigen Ende führten, gab es wie überall auf der Welt auch in Jugoslawien keinen Mangel.
Das heißt nicht, dass Jugoslawien nie eine Chance gehabt hätte. Als sich Ende der 1960er Jahre fast überall auf der Welt demokratische Aufbruchsstimmung regte, stritten auch in Jugoslawien junge Menschen für liberale Werte. Den meisten ging es an erster Stelle um bürgerliche Gleichheit - nicht um nationale. Aber die alte Garde an der Macht, mit Tito an der Spitze, mochte nicht mehr Demokratie wagen. Stattdessen entschied sie sich, das ethnische Gleichgewicht noch feiner als bisher auszutarieren. Am Ende fühlten sich alle von allen ausgebeutet. Und alle zu Recht.
Jugoslawien wird es nie wieder geben. Aber andere multiethnische Länder und staatenähnliche Organisationen stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen wie der Vielvölkerstaat vor seinem Zerfall. Grund genug, beim Blick zurück jede Anwandlung von Arroganz zu vermeiden.
Norbert Mappes-Niediek arbeitet seit 30 Jahren als Südosteuropa-Korrespondent für deutsche Medien. Sein Buch "Die Ethno-Falle: der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann" (224 Seiten) erschien 2005 im Christoph Links Verlag, Berlin.