Corona-Politik ohne Solidarität
Wenn man sich in Deutschland in der Pandemie bisher auf eines verlassen konnte, dann auf die große Bereitschaft der Bevölkerung, in dieser Krise zusammen zu stehen, die Schwachen zu schützen und dafür selbst große Einschränkungen hinzunehmen. Solidarität hält das Land zusammen in Zeiten, in denen die Pandemiebekämpfung mehr von Wahlkampf geprägt ist als von politischer Vernunft oder wissenschaftlicher Erkenntnis.
Gefahr für den Zusammenhalt
Um so fataler, dass jetzt ausgerechnet Politiker diese Solidarität aufkündigen. Gesundheitsminister Jens Spahn war der erste. Vollständig Geimpfte sollten von Auflagen wie Testen und Quarantänepflichten befreit werden, kündigte er an. Es dauerte wenige Tage, da meldeten sich Andere zu Wort, forderten eine schnelle, völlige Rückgabe aller Grundrechte für Geimpfte. Reisen, Restaurantbesuch, Konzerte, Fitnessstudio - alles könnte für sie schon bald wieder möglich sein.
Ja, Grundrechte sind ein hohes Gut. Sie einzuschränken, muss die Ausnahme bleiben. Und ja, bei einem Volk von über 80 Millionen kann damit nicht gewartet werden, bis auch die Letzten geimpft sind. Aber muss diese Diskussion wirklich gestartet werden mitten in der dritten Welle, in der die Intensivstationen überlastet werden? Sollte man sie starten zu einem Zeitpunkt, zu dem - als Ergebnis politischer Entscheidungen - gerade mal sechs Prozent vollständig geimpft sind?
Und war es nicht auch Jens Spahn, der noch Ende 2020 gesagt hat, dass die, die solidarisch warten, damit andere als Erste geimpft werden können, auch erwarten dürften, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden? Rückblickend muss man argwöhnen, dass dieser Satz nur eine Beruhigungspille war, aber keine politische Überzeugung.
Gefährliche Ungleichheit
Millionen von Menschen in Deutschland zwischen 16 und 59 Jahren werden frühestens im Juli eine Impfung bekommen, nicht wenige werden bis September warten müssen. Diese sogenannten Nicht-Priorisierten, die Gesunden, die Jüngeren, haben alle Einschränkungen überwiegend klaglos mitgetragen.
Sie managen Homeschooling und Homeoffice am Küchentisch, sie übernehmen die Einkäufe für ihre älteren Nachbarn, sie warten das zweite Jahr in Folge vergeblich auf einen Ausbildungsplatz. Das Virus ist für sie vergleichsweise weniger tödlich, aber auch ihnen drohen bei einer Infektion langjährige gesundheitliche Schäden. Und: Sie warten nicht nur länger auf den Impfschutz, sondern auch auf ihre Grundrechte.
Das ist eine Ungleichheit, die sich auch mit Testen nicht aus der Welt schaffen, sondern allenfalls mildern lässt. Und zwar nur, wenn die Politik endlich dafür sorgt, dass es jederzeit und durchweg kostenlose Testmöglichkeiten gibt. Beides ist nicht der Fall.
Einmal pro Woche kann man kostenlos einen offiziellen Schnelltest vornehmen lassen, um wenigstens für ein paar Stunden Freiheiten zu genießen, jeder weitere Test kann bis zu 39 Euro kosten, die Preise variieren je nach Region. Nicht jeder und jede wird sich seine Grundrechte täglich leisten können, ebenso wenig längere Quarantänezeiten nach Urlauben. Das Ausgeschlossensein produziert nicht Neid, wie die Politik weismachen will, sondern Ungerechtigkeit.
Solidarische Alternative
Dabei gibt es einen anderen Weg, der solidarisch und epidemiologisch sinnvoll ist. Würde man, wie in Kanada oder Großbritannien, den Abstand zwischen erster und zweiter Impfung vergrößern, könnten bis Ende Juni alle Impfwilligen in Deutschland ihre Erstimpfung erhalten und einen sehr hohen Schutz vor dem Virus haben. Das würde die Intensivstationen massiv entlasten, Flucht-Mutationen verhindern und schneller allen zu ihren Grundrechten verhelfen.
Für diese Alternative aber braucht es eine mutige Entscheidung der Politik. Darauf darf man in Deutschland derzeit nicht wirklich hoffen. Die Jüngeren aber werden nicht vergessen, wer ihnen die Solidarität aufgekündigt hat. Und im schlimmsten Fall der Politik ganz den Rücken kehren.