NSU-Prozess: Alte und neue Vorwürfe von Opfer-Angehörigen
15. Mai 2020"Die Angeklagte Zschäpe hat jeweils gemeinschaftlich und vorsätzlich handelnd in 10 Fällen einen Menschen heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet." Der Satz stammt aus dem schriftlichen Urteil im Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). So klar und eindeutig das klingt, so umstritten ist es. Denn Beate Zschäpe war nie dabei, als ihre Neonazi-Freunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in den Jahren 2000 bis 2007 neun Männer mit ausländischen Wurzeln und eine Polizistin ermordeten.
Trotzdem wurde sie am 11. Juli 2018 vor dem Oberlandesgericht München zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Und weil die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde, ist eine vorzeitige Haftentlassung sehr unwahrscheinlich. Rechtskräftig ist das Urteil allerdings noch nicht, weil Zschäpes Verteidiger Revision eingelegt haben. Das haben auch andere getan: drei Mitangeklagte, die wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung beziehungsweise Beihilfe zum Mord verurteilt wurden, und die Bundesanwaltschaft.
Sie alle analysieren nun die 3025 Seiten des schriftlichen Urteils – und hoffen, gute Argumente für die Begründung der Revision zu finden. Während sich der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichtes für das Schreiben seines dicken Brockens ein Jahr und neun Monate Zeit lassen konnte, müssen Revisionsanträge innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich begründet werden. Auch unter Juristen ist dieses Missverhältnis umstritten.
"All das, was passiert ist, steht in dem Urteil nicht drin"
Ein ganz anderes Problem haben 19 Anwälte von Angehörigen der NSU-Opfer. In einer gemeinsamen Erklärung bezeichnen sie den opulenten Schriftsatz des Gerichts als "Mahnmal des Versagens des Rechtsstaates". Die Ergebnisse der Beweisaufnahme seien "bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen". Zu den Unterzeichnern des dreiseitigen Verrisses gehört Sebastian Scharmer, der im NSU-Prozess die Nebenklägerin Gamze Kubaşik vertreten hat. Ihr Vater Mehmet wurde 2006 in Dortmund ermordet.
Dieser historische Prozess habe neben der Festlegung der Strafen auch den Zweck gehabt, "die Taten des NSU insgesamt zu beleuchten", sagt Scharmer im DW-Gespräch. Dabei denkt er vor allem an die Helfer der Rechtsterroristen und die Rolle des Verfassungsschutzes. Viele Informationen seien vorenthalten worden, Vertrauensleute des Inlandsgeheimdienstes, sogenannte V-Leute, hätten teilweise gelogen. "Und all das, was passiert ist, steht jetzt in dem schriftlichen Urteil nicht drin."
Angela Merkels Versprechen wurde nicht eingelöst
In anderen Terror-Prozessen würden die Gerichte sehr genau ermitteln. "Wie groß, wie gefährlich waren eigentlich die Strukturen? Wer hat sie tatsächlich mitgegründet? Wie viele Menschen waren noch beteiligt?" Diese Aufklärung sei jedoch im NSU-Prozess nur in sehr geringem Umfang erfolgt, "obwohl sie für die Tataufklärung entscheidend ist". Im Urteil spiele sie nun gar keine Rolle mehr. Natürlich hätten im NSU-Prozess nicht alle Fragen beantwortet werden, sagt Scharmer. Die große Frage sei dann aber: "Wo werden sie denn dann beantwortet?"
Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 in einer öffentlichen Gedenkveranstaltung in Berlin lückenlose Aufklärung versprochen. Die, sagt Scharmer, hätte nicht nur, aber auch im NSU-Prozess stattfinden sollen. Aber bislang sei sie "an keiner Stelle" erfolgt. "Und das lässt die Hinterbliebenen der Mordopfer und die Verletzten des NSU-Terrors allein." Die Hoffnung auf Aufklärung sei zwar noch da, sie sei aber "gering".
Auch nach dem NSU gab es viele rassistische Morde
Das schriftliche Urteil hätten sich die Sicherheitsbehörden selbst nicht besser schreiben können, meint Scharmer. Wenn der NSU nur aus drei Personen mit wenigen Helfern bestanden haben solle, seien die Behörden aus ihrer Sicht mit den Ermittlungen am Ende. Denke man das weiter, sei Rechtsextremismus kein strukturelles Problem. Sollte das aber doch der Fall sein, "wird man weitere Anschläge und Morde nicht verhindern", befürchtet Scharmer. Der Tod des Politikers Walter Lübcke oder die Attentate von Halle und Hanau scheinen ihm Recht zu geben.
Fehlenden Aufklärungswillen mussten sich Gericht und Staatsanwaltschaft auch schon während des fünf Jahre dauernden NSU-Prozesses anhören. Aber trotz aller Kritik an der Urteilsbegründung teilt Scharmer in einem wichtigen Punkt die Überzeugung der Richter: dass Beate Zschäpe eine Mörderin sei. Ihre Verteidiger sehen das anders, weil ihr in keinem einzigen Fall eine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen konnte. Zschäpe selbst hatte im Prozess behauptet, erst im Nachhinein von den Morden ihrer Freunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erfahren zu haben.
Die verurteilte Mörderin Beate Zschäpe war an keinem Tatort
Das Gericht gelangt in seinem schriftlichen Urteil allerdings zu einer anderen Bewertung: Ihr Beitrag habe darin bestanden, den jeweiligen Tatort auszuwählen und "gemeinsam mit den Männern das Opfer der jeweiligen Tat zu bestimmen". Dass Zschäpe bei keinem Mord am Tatort war, sondern in der gemeinsam genutzten Wohnung in Zwickau oder in ihrer Nähe, ist aus Sicht des Gerichts kein Widerspruch – im Gegenteil: Damit habe sie die Abwesenheit ihrer Freunde "verschleiern" und eine "sichere Rückzugsmöglichkeit" schaffen sollen.
Das Gericht geht von einer ausgeklügelten, wohlüberlegten Arbeitsteilung des NSU-Trios aus. Zschäpe habe aus ideologischen Gründen ein hohes Interesse an allen Verbrechen gehabt. Dazu zählten außer der Mordserie zwei Bombenanschläge mit über 20 Verletzten und 15 Raubüberfälle. "Aufgrund ihrer nationalsozialistisch-rassistischen Vorstellungen war der Angeklagten Zschäpe die Anwesenheit von Juden und Ausländern im Inland verhasst", heißt es in der Urteilsbegründung.
Angehörige der NSU-Opfer sind enttäuscht und verbittert
All diese Einschätzungen bestreitet natürlich niemand aus dem Kreis der Opfer-Angehörigen und ihrer Anwälte. Trotzdem finden sie das schriftliche Urteil "formelhaft, ahistorisch und kalt". In ihrer gemeinsamen Erklärung werfen sie den Richtern vor, den Betroffenen mit "hässlicher Gleichgültigkeit" gegenüberzustehen. Beispielhaft zitieren sie einen Satz aus der Urteilsbegründung: "Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Mehmet Kubaşik zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe."
So seien alle Mordopfer mit Migrationsgeschichte "in wortwörtlich gleichlautender Weise" beschrieben. Das Urteil hätte ihnen "ein Gesicht geben, die Lücke beschreiben können, die ihre Ermordung gerissen hat". Aber kein einziges im NSU-Prozess geäußertes Wort der Hinterbliebenen sei auf den 3025 Seiten aufgenommen worden. Auch deshalb erlebt Nebenkläger-Anwalt Sebastian Scharmer bei seiner Mandantin und anderen Opfer-Angehörigen "große Enttäuschung und teilweise Verbitterung".
Dieses Gefühl könnte sich sogar noch verstärken, wenn der Bundesgerichtshof im schriftlichen Urteil des Oberlandesgerichts fehlende Beweise oder sachliche Fehler finden sollte. Dann müsste der NSU-Prozess von vorne aufgerollt werden. Und Beate Zschäpe könnte auf ein milderes Urteil hoffen.