Nürnberger NS-Prozess: Warnung an Diktatoren
19. November 2020Nürnberg 1945: Die zweitgrößte Stadt Bayerns liegt weitgehend in Trümmern. Nach den fast sechs Jahren des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland am 8. Mai bedingungslos kapituliert. Nun soll Nürnberg, wo die Nationalsozialisten einst ihre pompösen Reichsparteitage zelebrierten, zum Schauplatz der Rechtsprechung werden. Es geht um Angriffskriege, Massenmorde und zwölf Jahre Diktatur. Die Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich richten dafür einen Internationalen Militärgerichtshof ein.
Gegen 24 Hauptkriegsverbrecher wird Anklage erhoben. Am 20. November beginnt das Verfahren gegen die engen Gefolgsleute des Diktators Adolf Hitler. Nazi-Größen, die ehemals von der Weltherrschaft träumten, finden sich auf den hölzernen Anklagebänken im Gerichtsaal 600 des Justizpalastes wieder.
Darunter Reichsmarschall und Luftwaffen-Oberbefehlshaber Hermann Göring, Hitlers zeitweiliger Stellvertreter Rudolf Heß und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Ihnen werden Verschwörung gegen den Weltfrieden, Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskrieges, Verbrechen gegen das Kriegsrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
Nazi-Organisationen wie die Schutzstaffel (SS) oder die Geheime Staatspolizei (Gestapo) sind ebenfalls angeklagt - als "verbrecherische Organisationen". Die schlimmsten Täter stehen allerdings nicht vor Gericht: Hitler, SS-Chef Heinrich Himmler und Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels hatten bei Kriegsende Selbstmord begangen.
Recht statt Rache trotz unermesslichen Leids
Dennoch: Erstmals in der Menschheitsgeschichte ziehen Staaten unterschiedlicher Regierungsformen und Verfassungen führende Vertreter eines besiegten Feindes für Verletzungen des Völkerrechts juristisch zur Rechenschaft. Ein Meilenstein des Völkerstrafrechts.
In seiner Eröffnungsrede betont der US-amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson die historische Dimension: "Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Sieg und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, dass die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat."
Auch mit der Definition der Anklagepunkte betreten die Alliierten Neuland. Es gab zwar das Konzept der Kriegsverbrechen der Genfer Konvention von 1864. "Aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder das Verbrechen des Angriffskrieges - Verbrechen gegen den Frieden, wie das in Nürnberg noch genannt wurde - gab es vorher in dem Sinne nicht. Diese Tatbestände sind in Nürnberg geboren worden", erklärt Christoph Safferling, Professor für Internationales Strafrecht und Völkerrecht der Universität Erlangen-Nürnberg, im DW-Interview.
Ein Schock für alle Prozessbeobachter
Während der Verhandlung herrscht eine beklemmende Atmosphäre. "Man war voll innerer Anspannung. Es war sehr ernst, still und bedrückend. Man hörte die Übersetzer, spürte die mit Scham geladene Atmosphäre", erinnert sich die Augenzeugin Renate Rönn. Sie begleitet ihren Vater, den Pflichtverteidiger Alfred Thoma, bei dem Prozess als dessen Sekretärin.
Anfangs habe man das ganze Ausmaß der Gräueltaten nicht erahnt, berichtet Rönn im Gespräch mit der DW. Das ändert sich mit der Beweislage. Filme über Konzentrationslager wie Auschwitz mit Bergen ausgemergelter Leichen erschüttern. "Es war ein Schock. Man konnte sich nicht vorstellen, dass solche entsetzlichen Grausamkeiten in Mitteleuropa und von einem Kulturvolk ausgeübt werden konnten."
Kein Angeklagter gesteht seine persönliche Schuld. Kaum jemand zeigt Reue, will von Massakern und Vernichtungslagern gewusst haben. Göring behauptet sogar, er habe niemals "einen Mord befohlen und ebenso wenig sonstige Grausamkeiten angeordnet oder geduldet", wo er "die Macht und das Wissen" gehabt hätte, sie zu verhindern.
Fast alle Angeklagten sprechen dem Gericht die Befugnis ab. Sie werfen ihm Siegerjustiz vor. Auch Teile der deutschen Bevölkerung empfinden es als ungerecht, dass das Verfahren ausschließlich in den Händen der Siegermächte liegt. Außerdem gibt es Kritik, dass Kriegsverbrechen der Alliierten unverhandelt bleiben.
Selbstmord kurz vor der Hinrichtung
Doch diese Vorbehalte machen die "Verfolgung deutscher Verbrechen nicht illegitim", urteilt Völkerrechtler Safferling. Außerdem: Wären die gerade gleichermaßen besiegten wie befreiten Deutschen aus praktischen und moralischen Gründen überhaupt selbst zur Rechtsprechung über den Nationalsozialismus in der Lage gewesen?
Augenzeugin Rönn zweifelt daran, wohlwissend, dass viele Nazis in ihren Ämtern verblieben waren. "Ich weiß nicht, wie diese Prozesse vor einem deutschen Gericht gelaufen wären. Bei diesen Nazi-Größen, die sich noch alle kannten, die auf dem Reichsparteitag aufgetreten waren und alle 'Sieg Heil' gebrüllt hatten." Es habe deshalb eine gewisse Erleichterung gegeben: "Die Siegermächte haben es uns abgenommen."
Organisatorisch übertrifft der Gerichtsprozess alles bisher juristisch Dagewesene. In 218 Verhandlungstagen hört das Gericht 240 Zeugen an, prüft mehr als 300.000 eidesstattliche Erklärungen. Das Sitzungsprotokoll umfasst 16.000 Seiten. Am 1. Oktober 1946 endet der Prozess mit der Verkündung von zwölf Todesurteilen, sieben Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. Zwei Verfahren waren ohne Verurteilung eingestellt worden. 16 Tage später, nur Stunden vor seiner Hinrichtung, begeht Göring mit Gift Selbstmord.
Es folgen zwölf Prozesse vor US-Militärtribunalen gegen 185 weitere ausgewählte Nazis. 24 werden zum Tode verurteilt. Der letzte Prozess endet im April 1949.
Das Erbe des Nürnberger Prozesses
Es ist Recht gesprochen worden. Aber auch Gerechtigkeit? Das würde jede Justiz grundsätzlich überfordern - insbesondere wegen der Dimension des geschehenen Unrechts. Von wegweisender Bedeutung gilt der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aber allemal. Ohne sein Beispiel wären wohl das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (1993 - 2017), das UN-Völkermordtribunal für Ruanda (1994 - 2016) sowie der Internationale Strafgerichtshof ISTGH in Den Haag (ab 2002) kaum vorstellbar.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden derzeit auf mehreren Ebenen verfolgt. Weltweit vom ISTGH mit einem völkerrechtlichen, international besetzten Gericht. Oder von UN-Tribunalen, die nur für eine einzige Situation eingesetzt werden.
Daneben werden internationale Straftaten auch auf nationaler Ebene geahndet. Über Behörden wie die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe. Sie schaltet sich beispielsweise bei den sogenannten Syrien-Heimkehrern ein: bei deutschen Staatsbürgern, die möglicherweise an IS-Kriegsverbrechen beteiligt waren. Oder bei Personen, die gegen das Völkerstrafrecht verstoßen haben und in Deutschland Unterschlupf suchen.
Eine universelle Gerichtsbarkeit aber, die die nationale Souveränität berührt, ist für einige Länder inakzeptabel. Unter anderem China sowie ausgerechnet zwei der ehemaligen Organisatoren der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die USA und Russland (in Nachfolge der Sowjetunion), weigern sich, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten. Ihre Blockadehaltung hat sich in den letzten Jahren verstärkt.
Der Schweizer Völkerrechtler und UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, prangerte in einem DW-Interview sogar eine "weltweite Erosion der Menschenrechte" an. Dass die Vereinigten Staaten ISTGH-Mitarbeitern Strafen androhen, falls sie gegen US-Soldaten ermitteln, wertet er als katastrophales Signal.
Trumps Abgesang auf den Multilateralismus
Insbesondere, weil die USA in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht das einflussreichste Land der Welt seien. "Wenn ausgerechnet dieses Land nicht bereit ist, selbst zur Verantwortung gezogen zu werden für Kriegsverbrechen, für die es Beweise gibt, die nicht einmal fraglich sind, dann haben wir ein großes Problem!"
Melzers Völkerrechtskollege Christoph Safferling sieht zunehmenden Isolationismus als Ursache: "Wir erleben einen Abgesang an den Multilateralismus, also die Idee, dass man völkerumspannend global Dinge gemeinsam regelt, gemeinsam an etwas arbeitet." Diese Idee habe sich gerade in den letzten fünf, sechs Jahren zurückentwickelt, "und das ist sehr stark mit US-Präsident Donald Trump verbunden."
Mit Joe Biden als Präsident bestehe nun eine realistische Chance, dass die USA zurückkehren in die Familie der Staaten, die sich um multilaterale Lösungen internationaler Probleme bemühen, schätzt Safferling ein. "US-Sanktionen gegen Mitarbeiter des ISTGH sind von Biden sicherlich nicht zu erwarten. Eine Mitgliedschaft am Strafgerichtshof aber ebenso wenig", prognostiziert Safferling.
Chefankläger als virtuelle Drohgestalt
Trotz der Vorbehalte einiger Staaten spielt das Völkerstrafrecht nach Meinung des Wissenschaftlers seit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs zudem eine grundsätzlich durchaus relevante Rolle in der globalen Politik. Heute könne man in Konfliktsituationen nicht mehr verhandeln, ohne dass der Chefankläger des ISTGH "zumindest virtuell als Drohgestalt" mit am Tisch sitze.
Vielleicht dauere es "manchmal ein bisschen zu lang. Aber es kann sich kein Diktator der Welt mehr sicher sein, dass nicht doch irgendwann eine internationale Strafjustiz zuschlägt", sagt Safferling. Dies sei der Entwicklung in den 90er Jahren bis zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs zu verdanken. "Das wiederum wäre nicht möglich gewesen ohne die Nürnberger Prozesse von 1945."