Ortskräfte: Vom Kameraden zum Bittsteller
12. Dezember 2019Schickes Hemd, schwarze Hose. Qais Jalal (Name geändert) sitzt vor dem Laptop in seinem Büro. Sein langer Bart glänzt, die Haare sind frisch geschnitten. Auf dem Bildschirm erscheint ein Foto. Der gleiche Mann, doch diesmal jünger, sein Bart einige Tage alt. Er trägt eine militärische Schutzweste, seine Kleidung ist staubig. Mit wachen Augen blickt Qais Jalal in sein müdes Gesicht von damals. Dieses 'damals‘ ist für ihn heute ein altes Leben. Sein Leben als sogenannte Ortskraft.
Als Ortskräfte bezeichnet die Bundeswehr Zivilisten, die sie während ihren Auslandsmissionen vor Ort engagiert. Als Übersetzer, als Wächter, oder ortskundiger Fahrer. 18 Jahre alt war Qais Jalal, als er sich als Dolmetscher vorstellte. Es folgten sechs Jahre, in denen er die deutschen Soldaten überall dort begleitete, wo sie ihn hinschickten. Tag und Nacht. In allen Einsatzgebieten, auch in gefährlichen Kampfregionen.
"Am Anfang, als sie mir meine Schutzweste und meinen Helm gegeben haben, da hatte ich kein gutes Gefühl. Ich hab‘ nur gedacht "Oh Gott, wo fahren wir denn jetzt hin?". Seitdem verfolgte ihn die Angst in jedem seiner Einsätze. Besonders nachdem sich die Sicherheitslage ab 2010 deutlich verschlechterte. Doch das konnte ihn nicht aufhalten. "Ich habe immer schlimme Dinge erlebt. Ich bin im Krieg geboren, ich bin im Krieg aufgewachsen, und deshalb konnte ich auch sechs Jahre lang im Krieg für die Bundeswehr arbeiten".
Eine ganz besondere Bedeutung
Ortskräfte unterstützen die Bundeswehr und andere internationale Organisationen wie die GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) bei vielen Missionen weltweit. Doch beim ISAF-Einsatz in Afghanistan ab 2001 sei ihre Leistung noch entscheidender gewesen als sonst: "Eine fragmentierte, kriegszerrüttete Gesellschaft mit hohem Konflikt- und Gewaltpotential und so viele staatliche und nicht-staatliche Akteure wie in keinem anderen Bundeswehreinsatz zuvor," sagt Winfried Nachtwei, Experte für Sicherheitspolitik, "da bekamen lokale Sprachmittler und Ortskräfte für die Truppe eine ganz besondere Bedeutung." So sind heute noch rund 1600 lokale Helfer in Afghanistan angestellt, obwohl die ISAF-Mission offiziell schon seit 2014 beendet ist.
Auch Qais Jalal hat gespürt, wie sehr er gebraucht wurde. Bis zu 16 Tage war er ohne Pause mit den deutschen Soldaten unterwegs, schlief mit ihnen im gleichen Zelt, ohne Dusche, ohne Kontakt zu seiner Familie. Während der Einsätze sprach er mit Bürgermeistern, verhandelte mit Stammesvertretern, vermittelte zwischen der Bundeswehr und der afghanischen Armee. Für die Menschen aus seinem Dorf wirkte er bald wie einer von 'ihnen', wie ein Soldat. Das wurde für ihn irgendwann lebensgefährlich.
Kollaborateur, Ungläubiger, Verräter
"Wenn die Taliban die Möglichkeiten gehabt hätten, die hätten mir sofort den Kopf abgehackt. Aber auch die streng religiöse Bevölkerung hatte etwas gegen mich. Kollaborateur, Ungläubiger, Verräter. Diese Worte hörte ich öfter." Als er in die Moschee ging, um zu beten, mieden ihn die Menschen, setzten sich nicht mehr neben ihn. Er galt für sie als "dreckig". "Ich betete, aber ich betete alleine".
Nach sechs Jahren bei der Bundeswehr flehte Qais Jalal seinen Vorgesetzten an, ihn und seine Familie nach Deutschland zu holen. Schließlich durfte er ausreisen, gemeinsam mit seiner schwangeren Frau und seinem Sohn, als Teil eines besonderen Immigrations-Programms für ehemalige Ortskräfte. In Deutschland angekommen lernt er Deutsch, macht innerhalb eines Jahres Abitur (mit einem Durchschnitt von 1,7), sucht sich einen Job als Integrationshelfer beim Ausländeramt in Leipzig und finanziert heute seine Wohnung und seine Familie komplett alleine. Denn abhängig vom Staat wollte er nie sein. Glücklich ist er trotzdem nicht, denn auch jetzt noch, fünf Jahre nach seiner Ankunft, ist seine Aufenthaltsgenehmigung befristet.
"Was passiert, wenn das eine Jahr vorbei ist? Was passiert mit der Zukunft meiner Kinder? Meiner Familie? Mit meiner Zukunft? Wir können nicht zurück nach Afghanistan." Er habe alles zurückgelassen, um sich hier in Deutschland eine neue Zukunft aufzubauen, in Sicherheit. "Aber wir sind nicht angekommen, wir dürfen uns nur aufhalten". Besonders schmerzhaft seien für ihn die unterschiedlichen Bestimmungen zwischen ihm und "gewöhnlichen Flüchtlingen", die er während seiner Arbeit im Ausländeramt betreut. Sie bräuchten zum Beispiel nur drei Jahre in die Rentenkasse einzuzahlen, um die Voraussetzung für eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erfüllen. Für ihn als ehemalige Ortskraft gelten fünf Jahre als Frist.
Qais Jalal klappt den Laptop zu, steigt in sein Auto und fährt nach Hause. 330 Kilometer ist er hin und zurück unterwegs, denn seine Wohnung liegt in Magdeburg. Um vier Uhr steht er jeden Morgen auf, um pünktlich auf der Arbeitsstelle zu sein. Doch nach Leipzig, in ein anderes Bundesland, darf er laut Innenministerium mit seinem Aufenthaltsstatus nicht ziehen.
Eine menschliche und wertschätzende Lösung
Die Wohnungstür im vierten Stock eines Magdeburger Hochhauses geht auf, Qais wird von seiner vierjährigen Tochter und seinem siebenjährigen Sohn herzlich begrüßt - auf Deutsch - denn das fällt ihnen mittlerweile leichter als ihre Muttersprache. Schließlich setzt sich Qais Jalal erschöpft mit einem Kaffee in der Hand auf das gepflegte weiße Sofa im Wohnzimmer und spricht plötzlich sehr eindringlich: "Ich bin Deutschland sehr dankbar, ich will nichts geschenkt, ich will hart arbeiten. Aber ich hoffe, dass das Bundesinnenministerium für uns alle Bundeswehr-Ortskräfte, die hier in Deutschland mit ihren Familien sind, eine menschliche und wertschätzende Lösung findet." Denn nur mit der Gewissheit, für immer in Deutschland bleiben zu können, würden sie auch wirklich ankommen.
Qais Jalal ist überzeugt, er hat in Afghanistan viel für Deutschland getan, sogar sein Leben riskiert. Jetzt hat das Bundesinnenministerium entschieden, die Aufenthaltsgenehmigung von ehemaligen Ortskräften bis Ende 2021 zu verlängern. Ein kleiner Trost. Doch in zwei Jahren wird er sich wieder die Frage stellen, wie viel Deutschland für ihn und andere Ortskräfte tun möchte, um ihnen auch langfristig ein neues Leben in ihrer neuen Heimat zu ermöglichen.