Prager Frühling 1968
20. August 2008Der Nachrichtensprecher des DDR-Rundfunks hat am Morgen des 21. August 1968 eine insgesamt zwölfeinhalbminütige Erklärung zu verlesen, die viele Ostdeutsche beim Frühstück überrascht: "Tass ist bevollmächtigt zu erklären, dass sich Persönlichkeiten der Partei und des Staates der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik an die Sowjetunion und die anderen verbündeten Staaten mit der Bitte gewandt haben, dem tschechoslowakischen Brudervolk dringend Hilfe, einschließlich der Hilfe durch bewaffnete Kräfte zu gewähren."
Die einmarschierenden Truppen des Warschauer Pakts hatten begonnen den Prager Frühling niederzuwalzen. Die Meldung des Einmarsches zerschlug nicht nur die Hoffnung der Reformbewegung der Tschechoslowakei, sondern auch die vieler Menschen in der DDR.
Einmarsch in Prag "niederschmetternd" für Ostdeutsche
Hartmut Zwahr ist damals 32 Jahre alt und aufstrebender Historiker an der Leipziger Karl-Marx-Universität. Von der Idee der Erneuerung des Sozialismus im Nachbarland ist er fasziniert. Zwahr kommt aus einer sorbischen Familie, spricht Tschechisch, reist regelmäßig in das Nachbarland und liest die dortigen Zeitungen. Die sind allerdings in Leipzig oft ausverkauft, denn auch in der DDR gehören im Sommer 1968 die Sympathien eindeutig Dubcek und seinen Reformen.
Der Einmarsch reißt alle unsanft aus ihren Träumen vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz: "Die Invasion war niederschmetternd. Dubceks Demokratisierung war ja schon im März '68 verbunden mit der Entlassung der politischen Gefangenen, die Pressefreiheit, die Reisefreiheit, die Hoffnung auf alle diese Dinge auch bei uns, die ging unter", erinnert sich Hartmut Zwahr.
Aus den Geschehnissen im Nachbarland habe er, so berichtet der Zeitzeuge, seine persönliche Konsequenz gezogen: "Ich habe keine Freundschaften mehr geschlossen in einem bestimmten Umfeld, das mit meiner Tätigkeit zusammenhing." Die Furcht vor der Staatssicherheit war zu groß.
Die Gedanken sind frei - die Menschen aber nicht
Hartmut Zwahr führt in den Monaten des Prager Frühlings eine Art Doppelleben. An der Hochschule funktioniert er, wie man es von einem Genossen erwartet. Am Abend jedoch schreibt er Tagebuch: Über die Parteiversammlungen, wo die strammen Genossen das Wort führen und Dubcek-Sympathisanten aus Angst schweigen. Über seine inneren Konflikte, seine ketzerischen Gedanken, politische Witze, den Alltagsfrust. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte Zwahr seine Notizen.
Zum Schreiben drängt es in jenen Augusttagen 1968 auch die 17-jährige Schülerin Hildegart Becker in Frankfurt an der Oder. Sie bemächtigt sich der Schreibmaschine ihres Vaters, eines evangelischen Pfarrers, und tippt gemeinsam mit einer Freundin und ihrer Schwester kleine Protestzettel gegen die Invasion. Diese verschickt sie an die Einwohner der Stadt, die Adressen entnimmt sie dem Telefonbuch. Nach 150 abgeschickten Briefen, bei Buchstaben K, ist die Stasi zur Stelle. "Wir haben uns ja so geschickt angestellt", sagt sie und lacht. "Ganz wenige Briefe haben ihre Adressaten erreicht. Von denen, die sie bekommen haben, haben viele die Briefe abgegeben. Das habe ich aber erst viel später aus den Stasi-Unterlagen erfahren."
Vom 21. August bis Ende November 1968, so berichten die Stasi-Akten, wurden in der DDR gegen 1290 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, die gegen den Einmarsch Losungen gemalt, Flugblätter verteilt oder auch nur öffentliche Kritik geübt hatten. Eine regelrechte Protestwelle für die streng überwachte Republik. Zu den Verhafteten gehören viele junge Arbeiter, Studenten und Schüler. Unter ihnen sind auch Kinder prominenter Partei- und Staatsfunktionäre. Die Pfarrerstochter Hildegart Becker wird drei Wochen nach der Briefaktion auf dem Schulweg verhaftet. Im Gefängnis hört sie die Glocken der Kirche, in der ihr Vater predigt.
Die Erinnerung bleibt
Hildegart Becker fühlt sich damals als Außenseiterin in der DDR. Sie ist nicht Mitglied bei den Pionieren oder in der DDR-Jugendorganisation FDJ. Dennoch, eine Feindin des Sozialismus ist sie deswegen nicht: "Das Vokabular des Sozialismus hatte schon etwas für sich. Gleiche Rechte und gegen Armut und so weiter. Insofern war der Gedanke ja auch der: Es ist doch schade um den Sozialismus, wenn man da mit Panzern einmarschiert."
Drei Monate wird Hildegart Becker im Stasi-Gefängnis in Frankfurt/Oder verhört. Endlich, kurz vor Weihnachten 1968, kommt sie frei. Der Staat will die Beziehungen zur Kirche nicht unnötig strapazieren. Ihre Lehre kann Hildegart Becker fortsetzen, macht Abitur, studiert Bauwesen, später noch Theologie und engagiert sich 1989 in der DDR-Bürgerbewegung. Sie hat Tschechisch gelernt, ihre beste Freundin ist Tschechin und ihre Tochter studiert heute im tschechischen Brno.
Aus dem aufstrebenden Historiker und Tagebuchschreiber Hartmut Zwahr wird ein in Ost und West anerkannter Sozialhistoriker, der bis 2001 an der Leipziger Universität lehrt. Nicht nur sein 68er-Tagebuch erinnert ihn an den Prager Frühling, sondern auch sein Sohn. Der heißt Alexander. So wie Alexander Dubcek, der Held des Prager Frühlings 1968.