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Chile wird sich verändern

22. Oktober 2010

Im Interview mit der Deutschen Welle spricht der chilenische Präsident Sebastián Piñera über die Rettung der verschütteten Bergleute. Und welche Politik Chile gegen den Sozialismus von Chavez und Castro setzt.

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Der chilenische Präsident Pinera und die Kanzlerin(Foto: AP)
Auf Deutschland-Besuch: der chilenische Präsident Sebastián PiñeraBild: AP

DW-WORLD.DE: Herr Präsident, die ganze Welt beglückwünscht Chile zur Rettung der Bergarbeiter. Wie hat dieses Ereignis Chile geprägt?

Sebastián Piñera: Das Ereignis hat sehr große Bedeutung für ganz Chile, denn es war ein Beispiel für nationalen Zusammenhalt, für Entschlusskraft, für Engagement, für Mut und Tapferkeit. Als am 5. August die Mine einstürzte, hat unsere Regierung sofort festgestellt, dass der private Betreiber der Mine weder Mittel noch Know-How hatte, um verantwortungsvoll auf das Unglück zu reagieren. Und deswegen haben wir das in die Hand genommen. Zwei Tage nach dem Einsturz gingen wir zu den Angehörigen und sicherten ihnen zu, alles Menschenmögliche für die Rettung der 33 Bergleute zu tun, so als wären es unsere eigenen Söhne.

Chile war nicht mehr dasselbe nach diesen "Wunder", hat dieses Ereignis Sie auch persönlich verändert, Herr Präsident?

Chile hat sich verändert, die Bergleute werden ein neues Leben beginnen. Bei uns allen, als Menschen, hat dieses Ereignis seine Spuren hinterlassen. Schließlich wussten wir 17 Tage lang nicht, wo sie waren, ob sie noch leben. Ich muss dazu eine persönliche Anekdote erzählen: Am selben Tag, als wir sie fanden, am Sonntag, den 22. August, starb der Vater meiner Frau. Ich war die ganze Nacht bei ihm. Und seine letzten Worte waren: Gebt nicht auf, findet die Bergleute! Als ich das meiner Frau erzählte, sagte sie, fahre jetzt sofort zur Mine, ich habe das Gefühl, das etwas Großes passieren wird. Kurz nachdem ich dort ankam, fanden wir die Nachricht, dass alle 33 im Rettungsraum überlebt hatten.

Sie haben nun angekündigt, entsprechende Gesetze zu reformieren und dafür zu sorgen, dass die Arbeitsbedingungen im Bergbau sicherer werden. Wie lange wird man warten müssen, bis diese Versprechen konkret werden?

Wir werden die nötigen Reformen bei den Gesetzen, den Sicherheitsstandards und den Aufsichtsbehörden mit derselben Dringlichkeit angehen wie die Bergungsaktion. Ich kann nicht garantieren, dass so ein Unfall nie wieder passiert, aber ich kann dafür sorgen, dass alles unternommen wird, dass das Risiko minimiert wird. Wir haben uns die Gesetze und Standards der hoch entwickelten Länder zum Vorbild genommen, die deutsche Bergbaugesetzgebung, um unsere daran anzupassen. Schon in den nächsten Wochen werden wir eine große Ankündigung machen können: Wir wollen, dass sich die Arbeitskultur und das Leben der Arbeiter zum Positiven verändert.

Bild von der chilenischen Präsidenten Sebastian Piñera der zu Besuch in Berlin.Piñera wird für einen TV Interview vorbereitet. DW.
Sebastian Piñera im Interview mit der Deutschen WelleBild: DW

Chile gehört zu den am weitesten entwickelten Ländern Lateinamerikas. Und trotzdem ist die Schere zwischen Arm und Reich eine der höchsten der Region. Wie geht ihre Regierung mit diesem Problem um?

Das ist unsere erste Priorität! Ich glaube an drei große Werte: Erstens: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Zweitens, eine freie Marktwirtschaft, die sich der Welt gegenüber öffnet und drittens glaube ich an eine gerechtere Gesellschaft, in der für alle gleiche Chancen und Möglichkeiten herrschen. Ich möchte aber, dass unsere Regierung nicht an ihren Intentionen, sondern an den Ergebnissen gemessen wird. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, in unserer ersten Regierungszeit die extreme Armut zu besiegen. Wir wollen aus Chile das am weitesten entwickelte Land Lateinamerikas machen. Das wollen wir auf zwei Wegen erreichen. Zum einen gehen wir die Ursachen von Armut an, werden in Bildung und Arbeitsplätze investieren und die Familie unterstützen. Außerdem geht es um die Konsequenzen: Wir werden ab nächstem Jahr den "Ingreso Ético Familiar", ein Mindesteinkommen für Familien, garantieren. Damit stocken wir die Einkommen auf, so dass die Familien aus der Armut heraus kommen. Das wird natürlich begleitet von Kontrollmaßnahmen, dass die Kinder auch zur Schule gehen, Gesundheitschecks bekommen, die Studenten an den Unis auch studieren etc. Wir, die Regierung und die Menschen, werden Hand in Hand arbeiten, um die Armut in Chile zu überwinden.

Wird das mit dem liberalen Wirtschaftsmodell zu schaffen sein, das Chile, mit ein paar kleinen Reformen, seit Jahren verfolgt?

Die freie, offene, globale Markwirtschaft funktioniert als Modell wunderbar, doch ihre Achillesferse ist eben, dass dabei auch enorme Ungleichheit und Armut geschaffen werden können. Und hier liegt die Aufgabe des Staates, zum einen die freie Wirtschaft zu unterstützen, aber auch Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es gleiche Möglichkeiten für alle gibt und dass alle teilhaben am Aufschwung unseres Landes.

Wie positioniert sich ihre Regierung im regionalen Kontext mit konservativen, liberalen Regierungen auf der einen Seite und anderen, die den Sozialismus des 21. Jahrhunderts vorantreiben wollen?

Es gibt zwei große Modelle in Lateinamerika. Auf der einen Seite steht das kubanische Modell mit Castro, das Venezolanische von Chávez, Ecuador, Nicaragua, vielleicht Bolivien mit Evo Morales. Sie suchen eine Art von Demokratie, die aber nicht die Art ist, die man hier in Deutschland oder in Chile kennt. Sie versuchen den wirtschaftlichen Aufschwung mit einer, meiner Ansicht nach, zu starken Rolle des Staates voranzutreiben. Ich glaube, dass andere Modelle bessere Chancen haben, und damit meine ich zum Beispiel Brasilien unter Lula, Mexiko unter Calderón oder Kolumbien jetzt mit Santos als Präsidenten, Peru und eben Chile unter unserer Regierung. Wir versuchen wirkliche Demokratie umzusetzen, in der es einen Rechtsstaat gibt, ein funktionierendes Parteienwesen, Pressefreiheit und freier Wirtschaft und eben einen Staat, der seine Verantwortung darin sieht, Chancengleichheit zu schaffen und die Armut zu beseitigen.

In Deutschland haben sich die Konservativen in letzter Zeit der politischen Mitte angenähert, haben Sie mit ihrer Regierung ähnliches vor?

Der Fakt, dass wir die Wahlen mit einer überzeugenden Mehrheit gewonnen haben, zeigt ja schon, dass wir auch Wähler im politischen Zentrum überzeugt haben. Und unsere Popularitätswerte sind in den letzten sieben Monaten gestiegen. Das zeigt ja, dass unsere Botschaft bei den Chilenen ankommt.

Was ist Ihr Eindruck bisher von ihrem Aufenthalt in Deutschland? Wo, glauben Sie, können die beiden Länder in Zukunft enger zusammenarbeiten?

Mit Deutschland verbindet uns eine lange und sehr gute Beziehung. Vor allem in vier Bereichen werden wir Gespräche führen: Bildung, Wissenschaft und Technik, erneuerbare Energien und staatliche Sozialpolitik. Deutschland ist für uns Vorbild, weil es eine Führungsrolle in Europa hat und eine enorme Wirtschaftsmacht. Deswegen würden wir es auch sehr begrüßen, wenn Deutschland permanentes Mitglied im Sicherheitsrat wird.

Und ich möchte am Schluss noch an etwas erinnern: Als vor 20 Jahren die Mauer in Berlin fiel, fiel nicht nur eine Mauer zwischen Ost und West, sondern auch eine zwischen Norden und Süden, zwischen den entwickelten, reichen und unterentwickelten, armen Ländern. Und an diesem Wandel wird Chile, 200 Jahre nach seiner Unabhängigkeit, teilhaben.

Das Gespräch führte Gonzalo Cáceres.

Übersetzung: Anne Herrberg

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