"Der Überläufer" von Siegfried Lenz
3. März 2016Das ist nun wirklich eine Überraschung. Da erscheint ein früher Roman eines der bedeutendsten Schriftsteller der Bundesrepublik erst viele Jahrzehnte nach seiner Entstehung. Siegfried Lenz ist ja nicht irgendwer. Mit Günter Grass, Heinrich Böll und Martin Walser gehörte Lenz zu den großen Autoren der Nachkriegszeit in West-Deutschland. Lenz' Romane prägten das intellektuelle Leben der Republik über viele Jahre mit.
Dabei ist es nicht überraschend, dass nach dem Tod eines wichtigen Autors - Lenz starb 2014 - aus dessen Nachlass bisher nicht gedruckte Manuskripte veröffentlicht werden. Roman-Fragmente, Briefe oder andere Skizzen - all das erscheint nicht selten auch posthum. Einfach aus dem Grund, weil so das Bild eines bedeutenden Schriftstellers, nicht zuletzt für die Wissenschaft, vervollständigt wird. Doch "Der Überläufer" ist kein Fragment. Das Buch ist auch kein misslungener Roman. Das Manuskript galt auch nicht als verschollen.
Der zweite Roman des vielversprechenden jungen Autors Siegfried Lenz
"Der Überläufer" sollte eigentlich als zweites Werk des Schriftstellers Siegfried Lenz Anfang der 1950er Jahre erscheinen. Einige Kapitel waren sogar schon großen Tageszeitungen zugeschickt worden und hatten eine positive Resonanz hervorgerufen. Schließlich war bereits Lenz' Debüt "Es waren Habichte in der Luft" ein Erfolg gewesen, hatte sich gut verkauft. Der gebürtige Ostpreuße Siegfried Lenz (*1926) galt schon damals als einer der vielversprechendsten Autoren der jungen Bundesrepublik.
Doch Lenz' Verlag bekam angesichts des Romaninhalts kalte Füße und legte die einzelnen Kapitel nochmals einem Lektor zur genauen Prüfung vor. Otto Görner, ehemaliges Mitglied der SS, zeigte sich zunächst aufgeschlossen für das Buch ("Es packt den Leser im Genick"), riet dem Autor dann aber zu entscheidenden Änderungen. In der jetzt beim Verlag "Hoffmann und Campe" (auch damals der Verlag von Lenz) erschienenen Ausgabe ist dieser Prozess im Anhang gut dokumentiert.
Worum geht es in "Der Überläufer"? Lenz schildert die Erlebnisse eines versprengten deutschen Wehrmachtstrupps während des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront. Literarische Hauptfigur ist Walter Proska, dessen Einheit bei einem Anschlag polnischer Widerstandskämpfer zerschlagen wird und der sich daraufhin zu einem anderen kleinen Trupp deutscher Soldaten durchschlägt. Immer wieder kommt es zu Scharmützeln mit Partisanen, es gibt Opfer auf beiden Seiten. Die unerträgliche sommerliche Hitze, riesige Mückenschwärme und die Sinnlosigkeit des Krieges zerren an den Nerven der Männer.
"Der Überläufer" - Roman über die Absurdität des Krieges
Proska trifft bei seinen neuen Kameraden auch auf den von allen nur "Milchbrötchen" genannten Soldaten Wolfgang, der diese Sinnlosigkeit offen anspricht:
Ich kann mein Vaterland unter dem Hemd forttragen, und wenn sie mir das Leben aus dem Kopf schießen, dann gibt es eben für mich kein Deutschland mehr. Doch sollst mich nicht mißverstehen: Natürlich gibt es ein Land, in dem ich geboren wurde und das ich besonders liebe. Ich liebe es, weil mir die Winkel und Wege vertraut sind, weil ich dieses Land in mein Herz geschlossen habe. Aber ich würde mich für keinen Winkel oder Weg abknallen lasse wie mein Vater. Er nämlich sprach von 'Pflicht', vom 'Bereitsein', und wie dieses rhetorische Sickergift sonst noch heißt. Verstehst Du Walter, wir sind auch Deutschland und nicht nur die anderen, und es wäre doch eine komplette Idiotie, wenn wir uns, die wir Deutschland sind, für Deutschland, also für uns selbst, opferten.
Und Walter versteht. Und der Leser mit ihm. Die Konsequenz: Irgendwann, im letzten Drittel der Romanhandlung, wechselt Walter die Seiten. Er wird zum "Überläufer", gemeinsam mit Wolfgang. In den Schlusskapiteln erfährt der Leser dann noch, dass Walter nach dem Krieg zunächst in der sowjetischen Besatzungszone arbeitet, dann aber, nachdem er das repressive System sowjetischer und ostdeutscher Kommunisten durchschaut hat, in den Westen flüchtet.
Eine klare Absage durch den Autor Siegfried Lenz
Insbesondere die den Roman nicht dominierenden, aber glasklar formulierten Aussagen zur Sinnlosigkeit des Krieges, müssen Anfang der 1950er Jahre heftige Irritationen ausgelöst haben. Lektor Görner wollte offensichtlich einen anderen Roman, einen, der das Thema Desertation ausspart, der weniger kriegskritisch ist. Siegfried Lenz war, das ist im Nachwort zu lesen, nur zu einem gewissen Grad an von Lektorat und Verlag verlangten Änderungen bereit, nicht aber zu einem völlig neuen, politisch genehmen Buch: "…ich möchte Ihnen nun mit Besonnenheit und völlig leidenschaftslos sagen, dass ich diesen Roman nicht schreiben werde; und zwar werde ich ihn nicht schreiben, weil ich ihn nicht schreiben kann."
Ein Roman, der nicht in die Zeit passte
Auch das politische Klima jener Jahre, der sich abzeichnende Kalte Krieg, ließ einen solchen Roman nicht opportun erscheinen: Ein Deutscher, der zu den Sowjets überläuft - das war der Leserschaft offenbar schwer zu vermitteln. Lenz' Reaktion war unmissverständlich: Er zog das Manuskript zurück. So befand es sich bis zum Tod des Autors 2014 in dessen Nachlass.
Als junger Fähnrich zur See war Siegfried Lenz kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Dänemark selber desertiert und in britische Kriegsgefangenschaft geraten. Es scheint also auch einiges an autobiografischer Verarbeitung in dem Buch zu stecken. Ursprünglich sollte der jetzt unter dem Titel "Der Überläufer" erschienene Roman "…da gibt's ein Wiedersehen" heißen. Für den Leser ist es ein großes Glück, dass dieser literarische Schatz nach rund 65 Jahren gehoben wurde.
Siegfried Lenz: Der Überläufer, Hoffmann und Campe 2016, mit Nachwort, 364 Seiten, ISBN 978-3-455-40570-5.