Russland: Taktieren mit den Taliban
19. Oktober 2021Wenn die Taliban-Vertreter in diesen Tagen nach Moskau reisen, dürfte der Weg für sie vertraut sein. Das russische Außenministerium empfing sie allein in diesem Jahr dreimal - im Januar, März und zuletzt im Juli. Das so genannte "Moskauer Format" zu Afghanistan am 20. Oktober wird die erste internationale Konferenz werden, an der die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Kabul teilnehmen. Mit dabei sind nach Angaben des russischen Außenministeriums zehn Länder aus der Region. Die USA werden laut eines Sprechers des Außenministeriums aus logistischen Gründen nicht teilnehmen.
Russland spiegelte die US-Politik
Der in den vergangenen Jahren vorangetriebene Ausbau von Kontakten zu den Islamisten zahlt sich für Moskau offenbar aus. Als Wendepunkt gilt dabei das Jahr 2016. Nachdem Washington unter Donald Trump Gespräche mit den Taliban gesucht hatte, habe Russland mit den USA gleichziehen wollen, sagt Andrei Kasanzew, Afghanistan-Experte und Dozent an der Moskauer Diplomaten-Hochschule MGIMO. "Außerdem wurde damals das Problem mit dem Islamischen Staat (IS) in Afghanistan deutlich", sagt Kasanzew. Es habe eine "Konzentration der Terroristen" an der Grenze zu Zentralasien gegeben.
Die Tatsache, dass auch die Taliban in Russland als terroristische Organisation verboten sind, störte niemanden. "Es hatte zuvor einen Präzedenzfall gegeben", so Kasanzew zur DW. So habe Russland 2013 den damaligen Präsidenten Ägyptens, den zu den Muslimbrüdern gehörenden Mohammed Mursi, empfangen, obwohl diese in Russland ebenfalls verboten sind.
Russland habe die Taliban "fast hofiert", sagt Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Ihre politischen Vertreter seien immer wieder nach Moskau eingeladen worden. Eine zentrale Rolle bei solchen Gesprächen spielt bis heute Samir Kabulow, der Afghanistan-Beauftragte des russischen Präsidenten. Der 67-jährige Diplomat und frühere russische Botschafter in Afghanistan hatte zuletzt den Ruf eines "Beinahe-Anwalts der Taliban auf der internationalen Bühne", heißt es in einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums. Kabulow habe sich damit bei der damaligen afghanischen Regierung unbeliebt gemacht. "Wir werden Beziehungen mit den neuen Machthabern in Afghanistan aufbauen müssen. Ehrlich gesagt haben wir das schon in den vergangenen acht Jahren getan; deshalb sind wir relativ komfortabel diesen Veränderungen in Afghanistan begegnet", so Kabulow.
Vorwürfe von Waffenlieferungen
Über mögliche Kontakte im Verborgenen lässt sich nur spekulieren. Washington warf Moskau immer wieder vor, Waffen an die Taliban geliefert zu haben. "Die Russen haben seit zehn Jahren Kleinwaffen verkauft, die Amerikaner in Gefahr gebracht haben", sagte im Sommer 2020 der damalige US-Außenminister Mike Pompeo. Moskau dementierte. "Die Taliban besaßen tatsächlich russische Waffen", sagt Kasanzew heute. Sie hätten diese Waffen allerdings in der Region besorgen können, etwa in Tadschikistan, so der Experte.
Ebenfalls 2020 kam über US-Medien ein noch brisanterer Vorwurf: Russland habe den Taliban womöglich Kopfgelder für die Tötung amerikanischer Soldaten angeboten. Pompeo soll seinen russischen Amtskollegen Sergei Lawrow davor gewarnt haben, berichtete die "New York Times". Öffentlich reagierte Washington damals zurückhaltend. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow sprach von "Lügen". Die neue US-Administration unter Präsident Joe Biden teilte im Frühling mit, US-Geheimdienste würden die Authentizität dieser Informationen als "gering bis mittelhoch" einschätzen.
"Cordon sanitaire" in Zentralasien?
Auf die Machtübernahme der Taliban war Russland besser vorbereitet als der Westen. Die russische Botschaft in Kabul ist eine der wenigen, die nicht geschlossen wurden. Doch mit der Anerkennung der Taliban lässt sich Moskau Zeit. Man wolle abwarten, wie "zivilisiert" die neuen Machthaber in Kabul sein werden, heißt es in Moskau. Eine russische Spitzenpolitikerin nannte die Wahrung von Frauenrechten als eine der möglichen Bedingungen für die Anerkennung.
Moskau versucht derzeit, mit anderen Ländern der Region, vor allem mit China und Pakistan, seine Afghanistan-Politik zu koordinieren. Doch das Hauptaugenmerk gilt den früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien. Moskaus Einfluss dort ist in den letzten Monaten gewachsen. Russland ist mit vielen Republiken in der militärischen Allianz der "Organisation der Vertrages über kollektive Sicherheit" (ODKB) verbunden und unterhält in Tadschikistan seinen größten Stützpunkt im Ausland. Seit dem Machtwechsel in Kabul zeigt Moskau verstärkt Präsenz; der Kreml schickte bereits hunderte Soldaten, Panzer und Kampfflugzeuge zu gemeinsamen Übungen. Auch während der Gespräche in Moskau wird eine derartige Militärübung an der tadschikisch-afghanischen Grenze stattfinden. Darüber hinaus lieferte Russland neue Waffen, darunter mehrere Spähpanzer, nach Tadschikistan.
Das Ganze sei Teil der langfristigen Moskauer Strategie, einen militärischen Sperrgürtel, eine Art "Cordon sanitaire", einzurichten, sagt Kasanzew. Moskaus größte Sorge sei, dass über Afghanistan Kämpfer des IS nach Zentralasien und von dort auch nach Russland gelangen könnten.
Eins machte Moskau dabei immer wieder deutlich: Russland werde keinesfalls Truppen nach Afghanistan schicken - wie einst die Sowjetunion. Das habe Präsident Wladimir Putin vor Jahren klar gemacht, als die NATO russische Infrastruktur für die Versorgung seiner Truppen am Hindukusch nutzen durfte, erinnert Kasanzew. "Moskau will sich mit dem stärksten Spieler in Afghanistan verständigen. Früher waren das die Amerikaner, jetzt sind es die Taliban", erklärt der Experte den russischen Ansatz. "Doch niemand in Russland vertraut den Taliban voll und ganz." So lange die Lage am Hindukusch instabil ist, setzt Moskau weiter auf einen Mix aus Diplomatie und Abschreckung.