Schauspiel Frankfurt spielt David Grossman - in Israel
2. Juli 2019Nur wenige Minuten hatte David Grossman gesprochen, da fiel schon das mächtige Wort, das so viel Emotionen auszulösen vermag: Holocaust. Der israelische Autor, dessen Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" gerade in Tel Aviv auf die Bühne gebracht worden ist - auf Deutsch -, sprach darüber, wie ihn die Entscheidung, seine Protagonistin Ora mit gleich vier Schauspielerinnen zu besetzen, zunächst erstaunt, dann aber fasziniert habe.
Die Chefdramaturgin des Schauspiel Frankfurt hob die Diskussion im Anschluss an die Aufführung dann auf eine ganz andere Ebene. Das ganze Team sei sehr aufgeregt gewesen, sagte Marion Tiedtke. In Deutschland fühle man sich mit dem Land Israel durch die schreckliche gemeinsame Geschichte des Holocaust sehr verbunden. Wenn man hier an diesem Ort auf der Bühne stehe, wolle man möglichst nichts falsch machen, keine Gefühle verletzen.
Dabei geht es in dem Roman von David Grossman keineswegs um den Holocaust und die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten. "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" ist die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen Ora und ihren beiden Freunden Ilan und Avram.
Im Yom-Kippur-Krieg von 1973 wird einer der beiden Männer, Avram, von den Ägyptern gefangen genommen und jahrelang gefoltert. Seinen besten Freund Ilan plagen sein Leben lang Selbstvorwürfe: Warum hat es Avram und nicht ihn getroffen? Warum darf er mit Ora zusammenleben und zwei Kinder großziehen und nicht Avram?
Grossmans Sohn starb im Libanon-Krieg
Diesen Fragen forscht der Roman, den Grossman vor mehr als zehn Jahren schrieb, mit Hilfe von Rückblenden nach. Die Rahmenhandlung ist nicht weniger dramatisch und nicht weniger politisch: Im Zentrum des Geschehens steht die ältere Ora - mehr als 20 Jahre nach dem Yom-Kippur-Krieg.
Als ihr jüngerer Sohn – der sich als das Kind von Avram herausstellt – zum Ende seiner Armeezeit in eine neue "Operation" eingezogen wird, entscheidet sie sich zu fliehen. Ohne Handy wandert sie durch Galiläa, um nicht erreichbar zu sein für die Nachricht, die sie so fürchtet: dass ihr Sohn Ofer im Krieg gefallen sei. Mit dabei: ihr Ex-Liebhaber Avram, der nach Jahren in ägyptischen Gefängnissen nach Israel zurückkehren konnte, schwer verletzt und traumatisiert. Beim Wandern mit Ora wird klar: Er ist ein gebrochener Mann.
Alter Ego als Romanheld
Ora wurde nach Erscheinen des Romans immer wieder als Alter Ego David Grossmans interpretiert. Sein Sohn Uri war – ebenso wie sein Protagonist Ofer im Roman – Panzerkommandeur. Während Grossman den Roman schrieb, nahm er an einer der letzten Offensiven des zweiten Libanon-Krieges im Jahr 2006 teil.
Als er den Roman fast beendet hatte, starb Uri. Sein Panzer wurde von einer Rakete der Hisbollah getroffen. Die Anteilnahme am furchtbaren Verlust Grossmans war groß, der Roman wurde weltweit zu einem Erfolg. Von Kritikern wie Lesern wurde er für seinen emotionale Vielschichtigkeit gefeiert.
Aus der Perspektive der bangenden Mutter um ihren Soldatensohn übte Grossman scharfe Kritik an der Politik seines Landes, unter anderem an der Besatzung der palästinensischen Gebiete. Eine Kritik, die aus dem Mund eines Israelis, der zugleich stets die Liebe zu seinem Land betont hat, anders klingt als von einem Deutschen.
Israelkritik ausgerechnet aus Deutschland?
Auch dieser Situation war sich das Schauspiel Frankfurt nach öffentlichen Debatten um die Entscheidung des deutschen Bundestags, die antiisraelische BDS-Bewegung als antisemitisch zu definieren, bewusst. "Wir müssen in Deutschland mit dieser heiklen Situation umgehen, dass man auf der einen Seite diese Schuld nie loswerden wird gegenüber Juden und auch gegenüber Israel", sagte die Chefdramaturgin des Schauspiel Frankfurts Tiedtke der DW. "Auf der anderen Seite sind aber die allgemeinen Menschenrechte da, die jedem eine Heimat zugestehen und da tun wir uns Deutsche sehr schwer."
Es gebe durchaus ein Risiko solche politischen Stoffe zu inszenieren, räumte sie ein. Sie glaube aber, "dass das Theater die Funktion hat, wichtige Themen in unserer Gesellschaft anzusprechen, auch wenn sie heikel sind und manchmal für brennende Diskussionen sorgen".
Und so war die Frage des Abends: Wie inszeniert ein deutsches Theater einen zutiefst israelischen Stoff? Eine Geschichte voller Kriegstraumata, voller Angst vor Vernichtung und davor, den so lang ersehnten eigenen Staat zu verlieren. Und zugleich voller Kritik an eben diesem Staat Israel, der mitten im Nahost-Konflikt selbst zum problematischen Akteur wird.
"Deutsche kennen den Krieg nicht mehr"
An diesem Abend im Gesher Theater von Tel Aviv-Jaffa blieben hitzige Diskussionen aus. Die Inszenierung des Schauspiels Frankfurt, das im Rahmen des internationalen Jaffa-Theater-Festivals, unterstützt vom Goethe Institut, nach Israel eingeladen worden war, wurde vom Publikum wohlwollend aufgenommen.
Und auch David Grossman, der bis heute zu den großen Friedensmahnern seines Landes zählt, schwieg an diesem Abend zur aktuellen israelischen Politik, wie auch zur weltpolitischen Lage. Er wolle die Aufführung einfach auf sich wirken lassen, sagte er.
"Wir waren beschämt, Menschen, die tagtäglich in einer Situation leben, die jeden Tag kippen kann, etwas über ihr eigenes Land zu erzählen", meinte Chefdramaturgin Tiedtke. "In Israel gibt es eine Lebenssituation, die wir in Deutschland aufgrund des Friedens, der jetzt seit mehr als 70 Jahren währt, momentan nicht kennen."
Für eine der Darstellerinnen der Ora gilt dies nicht. Die Schauspielerin Altine Emili weiß, was Krieg bedeutet. Sie wurde im Kosovo geboren. Als Fünfjährige floh sie mit ihrer Familie vor den serbischen Truppen nach Deutschland. "Für mich war es noch mal ein ganz anderer Kampf, diesen Stoff zu sehen. Ich habe einen anderen Zugang dazu, ich fühle das emotional und kann es nicht einfach technisch runterspielen", sagte sie nach der Vorführung. Sie habe Angst davor gehabt, mit ihrer Darstellung auf der Bühne jemanden zu verletzen. Denn sie weiß, was es bedeutet, wenn Traumata wieder geweckt werden.
Die Sprache der Täter
Deutsch, die Sprache der Täter des Holocaust, auf einer israelischen Bühne zu sprechen habe ihr hingegen keine Kopfschmerzen bereitet, meinte die Mitzwanzigerin. Ihr Freund ist Israeli, seit drei Jahren lebt er in Deutschland. Sie spricht mit ihm Deutsch.
Anders war es für Marion Tiedtke, die das erste Mal nach Israel gekommen war: "Ich war sehr beglückt als ich merkte, dass um mich herum im Publikum sehr viele deutschsprachige Menschen saßen, die auch gekommen sind, weil sie die deutsche Sprache hören wollten. Das hat mich sehr berührt, weil dies zeigt, dass trotz dieser schrecklichen gemeinsamen Geschichte, die Sprache noch eine Verbundenheit ist."
Nach der Aufführung standen etliche Zuschauer noch Schlange: Nicht bei David Grossman, sondern bei der Dramaturgin aus Deutschland. Sie wollten mehr über ihre Sicht auf Israel erfahren und luden sie im Anschluss ein, doch wiederzukommen.
David Grossman ist einer der bedeutendsten israelischen Schriftsteller. Er wurde 1954 in Jerusalem geboren - als Nachfahre polnischer Holocaust-Überlebenden. Seine Mutter ist in Palästina geboren. Grossman studierte Philosophie und Theaterwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Bücher sind in alle Weltsprachen übersetzt worden und in Deutschland Bestseller. Wie auch der 2018 gestorbene Amos Oz setzt sich Grossman für die Aussöhnung zwischen Israel und den Palästinensern und Frieden ein.