Kriegsrat über Brexit und Unabhängigkeit
13. Oktober 2016Eine Woche ist eine lange Zeit in der britischen Politik - so lautet ein bekannter Spruch des ehemaligen Premierministers von Großbritannien, Harold Wilson. Demzufolge sind drei Monate eine Ewigkeit. So lange ist es her, dass Theresa May als neu gekrönte britische Premierministerin das schottische Edinburgh besuchte. Damals, im Juli, sprach May von der "besonderen Verbindung" Schottlands und Englands.
Solch warme Worte sind dieser Tage von May und ihrer schottischen Amtskollegin Nicola Sturgeon, Chefin der schottischen Nationalpartei (SNP), nicht zu hören. Im Gegenteil. Auf dem Tory-Parteitag vergangene Woche erklärte May, sie werde niemals zulassen, "dass Uneinigkeit stiftende Nationalisten die wertvolle Union des Vereinigten Königreichs unterminieren". Schottlands Ministerpräsidentin antwortete mit dem Vorwurf, May habe versäumt, die schottischen Ängste und Sorgen über das Ausscheiden aus der Europäischen Union ernst zu nehmen.
Sturgeon will ein neues Referendum
Der Brexit und ein mögliches zweites Referendum über Schottlands Unabhängigkeit von England werden die beherrschenden Themen des SNP-Parteitags bleiben, zu dem ab diesem Donnerstag rund 3000 Delegierte nach Glasgow gereist sind.
In Sachen Unabhängigkeitsreferendum machte Sturgeon in Glasgow gleich zu Beginn den Sack zu und kündigte einen Gesetzesentwurf für eine neue Abstimmung an. Der Entwurf werde kommende Woche vorgelegt, dann könnten Beratungen über das Vorhaben beginnen. "Ich bin entschlossen, dass Schottland die Fähigkeit erhält, die Frage seiner Unabhängigkeit noch mal zu überdenken und das, bevor Großbritannien die EU verlässt, wenn das notwendig ist, um die Interessen unseres Landes zu schützen", sagte die schottische Ministerpräsidentin.
Im September 2014 hatten die Schotten schon einmal über eine Unabhängigkeit von London abgestimmt. Damals votierten 55 Prozent für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Durch das Brexit-Referendum vom 23. Juni haben sich die Voraussetzungen aber grundlegend verändert, sagte Sturgeon.
Unabhängigkeit als Brexit-Antwort
Zumindest in der Theorie scheint das Ja der Briten für den Ausstieg aus der EU wie Wasser auf den Mühlen der Schottischen Nationalisten. Denn in der Brexit-Abstimmung sprachen sich mehr als zwei Drittel der Schotten für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union aus. Die SNP unterstützte diese Position vehement.
Als am Morgen nach der Abstimmung das Ergebnis klar war, erklärte Ministerpräsidentin Sturgeon, umrahmt von der EU-Flagge zur Rechten und der Schottischen Nationalflagge zur Linken, ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien sei nun 'höchstwahrscheinlich'.
Solche Worte, von einer sonst für ihre Vorsicht bekannten Politikerin, klangen riskant. Aber in der fiebrigen Nach-Brexit-Atmosphäre erschienen sie selbst den Schotten, die 2014 eine Unabhängigkeit von Großbritannien abgelehnt hatten, als einzig angemessene Antwort. Besonders die schottische Mittelschicht gehört zu den stärksten Befürwortern der EU: Fast zu dreiviertel der Bewohner Edinburghs etwa stimmten beim Brexit mit 'bleiben'.
Englands Schwierigkeiten - Schottlands Gelegenheit?
Auf den Straßen ist der schottische Ärger über den erzwungenen EU-Ausstieg bisher in keine neuen Unabhängigkeitsforderungen gegenüber Großbritannien umgeschlagen. Bis auf einen Einbruch in der Zeit unmittelbar nach dem Brexit-Entscheid liegt die Zustimmung für einem Verbleib im Vereinigten Königreich weiterhin bei rund 55 Prozent - so viele Schotten hatten sich auch 2014 im Unabhängigkeitsreferendum gegen die Abspaltung ausgesprochen. Und mindestens genauso bemerkenswert: Mehr als die Hälfte der schottischen Bürger ist gegen ein weiteres Referendum.
Hat die SNP die Abstimmung über Schottlands Unabhängigkeit auch 'verloren', so hat das Referendum die Partei doch verändert. Fast über Nacht vervierfachten sich ihre Mitgliedszahlen auf rund 100.000 - und sie steigen weiter. Die Parteibasis ist zwar pragmatischer als man es ihr zuschreibt - trotz des Zustroms neuer, stärker linksgerichteter Mitglieder - doch würden viele einen neuen Anlauf in Richtung Unabhängigkeit befürworten. Englands Schwierigkeiten könnten Schottlands Gelegenheit sein.
" Brexit light" als Kompromiss
Für ihren Teil hatte Sturgeon bereits im vergangenen Monat eine neue Debatte über die Unabhängigkeit in Gang gesetzt. Spitzenpolitiker wurden beauftragt die 'Nein-Stimmer' zu überzeugen, ein mögliches Referendum neu zu überdenken. Außerdem wurde angekündigt, eine "Wachstums-Kommission" ins Leben zu rufen, um neue Antworten auf wirtschaftliche Fragen - allen voran die nach einer künftigen Währung zu finden; Fragen, mit denen sich die SNP bei ihrer vergangenen Unabhängigkeitskampagne immer wieder konfrontiert sah.
Bei allen Pro-Referendums-Vorbereitungen zeigten sich Schottlands Nationalisten aber auch bereit, mit Westminster Kompromisse in Sachen EU-Ausstieg zu schließen. So deuteten Sturgeon und ihr Brexit-Minister Michael Russell gewisse Deals an, die man sich vorstellen könne, etwa einen Verbleib Schottlands im EU-Binnenmarkt sowie den Beibehalt des freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs.
London lehnt Sonderweg für Schottland ab
Derzeit aber scheint die Möglichkeit solcher Kompromisse in weite Ferne gerückt. So machte Großbritanniens Premierministerin Theresa May auf dem Delegiertentreffen ihrer konservativen Partei vor wenigen Tagen klar, dass es auch für die Schotten keinen Exit vom Brexit gibt und erteilte einem schottischen Sonderweg eine Absage. Ein Veto-Recht hat Schottland nicht, wenn Großbritannien im kommenden März nach Artikel 50 der EU-Verfassung den Austrittsprozess aus der Europäischen Union einleitet.
Mays schriller Nationalismus, wie etwa ihr später wieder zurückgezogener Vorschlag, britische Firmen sollten angeben, wie viele Ausländer sie beschäftigten, kommt in einem Schottland, das die Narben des "Thatcherismus" noch immer spürt, zwar nur mäßig an. Tatsächlich aber könnte er die Arbeit der schottischen Konservativen um einiges schwerer machen. Und Schottlands Ministerpräsidentin beförderte die Haltung ihrer britischen Kollegin May in eine äußerst schwierige Lange: Entweder Sturgeon initiiert ein neues schottisches Unabhängigkeitsreferendum oder aber sie fügt sich und sieht zu, wie die Schotten mit dem Rest des Vereinigten Königreich aus der EU verschwinden. Mit ihrem verkündeten Fahrplan für ein neues Referendum hat sich Schottlands Ministerpräsidentin nun klar positioniert - sicher nicht zur Freude aller ihrer Parteifreunde.
Ungeklärte Finanzfragen
Denn persönlich blicken viele SNP-Spitzenpolitiker äußerst misstrauisch auf ein mögliches neues Referendum. "Sie haben Recht, vorsichtig zu sein", sagt Andrew Tickell, ein bekannter schottischer Nationalist. "Die SNP muss glaubwürdige und verlässliche Antworten auf die Währungs- und Finanzfragen finden. Aber es fällt schwer zu glauben, dass diese Arbeit tatsächlich erledigt wird", sagte Tickwell der Deutschen Welle.
Sicher ist: Die wirtschaftlichen Umstände, die das Referendum 2014 begleiteten, sind nicht dieselben geblieben. Der SNP-Entwurf für ein unabhängiges Schottland sah damals vor, die Kosten für den neuen Staat allein aus den Einnahmen aus dem Verkauf von Nordsee-Öl zu bestreiten. Doch der Öl-Preis ist seit 2014 dramatisch gefallen.
Mag der Brexit eine Unabhängigkeit für viele Schotten in politischer Hinsicht attraktiver machen, die wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Unabhängigkeit macht er wesentlich komplizierter. Mehr als 65 Prozent seiner Wirtschaftsbeziehungen unterhält Schottland mit England. Manche Nationalisten argumentieren, eine Unabhängigkeit schaffe Chancen für neue wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Staaten. Das mag richtig sein, doch würde dies weder von heute auf morgen geschehen, noch würde es den schottisch-englischen Grenzhandel ersetzen können.
Wahlmüde Schotten
Und Finanzfragen sind nicht die einzige Herausforderung, auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Die schottischen Bürger sind wahlmüde - allein in den vergangenen fünf Jahren wurden sie zu mehr als einem halben Dutzend wichtiger Abstimmungen an die Urnen gerufen. Außerdem stimmte immerhin mehr ein Drittel aller SNP-Wähler für den Brexit und zerbeulte das bis dahin tiefe Vertrauen der SNP in den schottischen Rückhalt für die EU.
Für lange Zeit bedeutete SNP-Politik vor allem Nein-Sagen. Nun aber sind die Nationalisten Schottlands Regierungspartei: Im Mai zog die SNP zum dritten Mal als stärkste Kraft ins schottische Regionalparlament in Edinburgh ein. Erst vergangene Woche gewann die SNP eine Gemeinderatswahl im Glasgower Arbeiterviertel Scotstounhill - üblicherweise eine Labour-Hochburg. Trotz aller Unsicherheit über das Unabhängigkeitsreferendum: Der schottische Nationalismus hatte selten so glänzende Zukunftsaussichten wie heute.