Christian Schärf über Goethe in digitalen Zeiten
4. Dezember 2016Christian Schärf beschäftigt sich an derUniversität Hildesheim unter anderem mit literarischem Schreiben und Mediengeschichte der Literatur. Im Nebenberuf verfasst erRomane. Sein zweiter - "Die Reise des Zeichners" - ist soeben erschienen. Darin stellt er Johann Wolfgang von Goethe während seiner Winterbesteigung des Brockens im Jahre 1777 vor. Damals reiste Goethe, getarnt als bildender Künstler, durch die Lande - so ist auch der Titel von Schärfs Roman zu verstehen. Wir sprachen mit dem Autor über sein Buch und das Thema "Goethe" bei jungen Leuten.
Deutsche Welle: Sie lehren literarisches Schreiben, das heißt, Sie schulen junge Leute, wie man Kurzgeschichten und Romane schreibt. Ihr eigener Roman blickt ganz weit zurück in die deutsche Literaturgeschichte, beschäftigt sich mit Goethe, Lenz und anderen deutschen Geistesgrößen. Ist so ein Stoff eigentlich noch an Studierende zu vermitteln?
Christian Schärf: Das Interessante an der Sache ist, dass ich im Vorfeld des Romans ein Seminar über Goethes Harz-Reise gegeben hatte. An diesem Seminar nahmen bis zu 25 Studierende teil. Dazu hatte ich sie mit Goethe und mit der ganzen Situation zum Teil erstmalig vertraut gemacht. Bei Exkursionen erforschten sie dann auch auf eigene Faust das ganze Gelände, wie etwa Weimar. Das war möglicherweise auch ein ganz dienlicher und nachhaltiger Schlüssel, dieses Universum der Klassiker wieder aufzuschließen. Ich fand es selbst überraschend, dass das so gut funktionierte.
Was sagen uns die Dichter und Denker aus der Zeit der deutschen Klassik heute? Was sagen sie den jungen Studierenden?
Das hat sich natürlich verändert. Früher hat es genügt, wenn man "Goethe", "Klassik" oder "Genie" gesagt hat - sofort waren die Leute interessiert. Heute muss man sicherlich gewisse andere Hürden überwinden. Man muss neue Wege finden, diese Themen den Leuten nahezubringen. Man kann also nicht mehr von gewissen Standards ausgehen, die die Kultur früher beinhaltet hat, und die sich jetzt, wenn auch nicht vollständig, aufgelöst oder zumindest relativiert haben. Da hat die sinnliche Erfahrung mit der Umwelt, wo sich das ganze abgespielt hat, sehr gut gewirkt.
Sie haben sich ja eine ganz besondere Episode in Goethes Leben herausgegriffen, das Ende des Jahres 1777 und, in Rückblenden, die Zeit davor. Was hat Sie daran so interessiert?
Es ist ein neuralgischer Punkt in Goethes Biografie, der mir von den Goethe-Biografen auch nicht besonders gut ausgeleuchtet erschien. Es ist der Wechsel von Frankfurt am Main nach Weimar, das erste Jahr in Weimar und das Ende der Genie-Epoche. Die hatte Goethe ein paar Jahre zuvor gewissermaßen selbst initiiert. Jetzt beginnt er, das Ende dieses Kults und dieser Art von Ästhetik einzuleiten. Da gibt es eine Übergangszeit, in der Goethe noch schwankt und noch nicht weiß, wie es weitergehen soll. Er legt eine gewisse Orientierungslosigkeit an den Tag. Das war auch eine sehr stark erotische Orientierungslosigkeit. Da gibt es einerseits die alten Figuren aus der Genie-Zeit wie Lenz, und es gibt diese neue Szenerie mit Frau von Stein und dem Herzog, in der er sich zwischen diesen Polen neu zu justieren hat. Das erschien mir als eine sehr reizvolle Mikro-Epoche in Goethes Leben.
Dieses Schwanken greifen sie auf, indem Sie mit Goethe & Co. sehr ironisch umgehen. War das auch ein literarisches Konzept?
Das kann es eigentlich in diesem fundamentalem Sinne, wie es vielleicht früher einmal gewesen ist, nicht mehr sein. Heute ist dieses Ansinnen (Goethe auch ironisch zu sehen, Anm. d. R.) ja längst vollzogen. Allerdings beobachten wir gerade in jüngster Zeit, wenn wir an Rüdiger Safranskis große Goethe-Biografie denken, eine Art Restitution des alten Klassiker-Begriffs, der Klassiker-Verehrung. Es schien mir schon reizvoll, noch einmal eine Konterkarierung dieses nun entstehenden Bildes zu versuchen. Aber eben nicht mehr in diesem ganz starken, provokativem Sinne, wie man das um das Jahr 1968 versucht hat.
Literarische Figuren wie Lenz haben wir bereits erwähnt, eine große Rolle in Ihrem Roman spielt auch Klopstock.
Ja, Klopstock ist ja für unser heutiges Verständnis in der Bedeutung fast versunken. Man weiß eigentlich nicht mehr genau, was für ein großartiger Typ das damals für die Generation gewesen ist. Das hat mich natürlich sehr gereizt: Klopstock noch einmal in Erscheinung treten zu lassen. Und auch Goethes Ehrgeiz, gegen diesen Präzeptor, dieses Alter Ego, anzugehen und das zu überwinden - und somit ein neues Dichterbild zu entwerfen und zu behaupten.
Der andere Ehrgeiz Goethes, den sie beschreiben, ist der des Bergsteigers. Es geht um die winterliche Erstbesteigung des Brocken im Harz. Warum hat Goethe das eigentlich angestrebt?
Im Roman ist das eine Frage, die nicht wirklich erklärt wird. Beim Schreiben des Romans wurde mir klar, dass das offen bleiben musste. Trotzdem hat mich die Motivation, die bei Goethe dahintersteckte, interessiert: Was will er damit bewirken? Will er den Brocken besteigen, um damit ein Sühnezeichen zum Geburtstag seiner gerade verstorben Schwester zu setzen? Oder will er Frau von Stein beweisen, dass er ein herausragender Typ ist? Eine ganz besondere Gestalt im weltgeschichtlichen Sinne? Oder ist es nur eine Flucht aus Weimar - mit einem imaginären Ziel? Oder ist es tatsächlich dieses Wagnis, also geradezu ein Abenteuer, eine Abenteuer-Motivation? Das wollte ich offen lassen: Es gibt mehrere Gründe, aber keinen, der eindeutig zutrifft.
Auch wird offen gelassen, ob Goethe das überhaupt gemacht hat. Oder ob er sich in die Bergbesteigung hineingeträumt und diese nur zu Papier gebracht hat …
Ja genau! Im Prinzip war ja niemand dabei. Wieweit dieser erwähnte Förster mitgegangen ist, bleibt unklar. Das war natürlich eine fiktionale Entscheidung. Damit wollte ich auch keine neue These für Historiker aufstellen.
Was sagen Sie Ihren Studierenden, warum man Goethe heute noch lesen solle?
Es geht darum, den Studierenden die Literaturgeschichte überhaupt wieder nahe zu bringen. Es ist ja durch die digitale Informationswelt ein ganz neues Informationsverhalten eingetreten, das in sehr kurzen, kleinen Dosen und stark bildbesetzt verabreicht wird. Dass man eigentlich wieder Geschichten entwirft, Kontinuitäten rekonstruiert, die von heute dorthin führen. Das ist ja auch unsere Aufgabe. Es ist vielleicht nicht die einzige Aufgabe, die wir als Kulturwissenschaftler haben, aber es ist mit eine Aufgabe, Narrative zu entwickeln, die heute aufgegriffen werden und noch gelten können.
Gelingt es in Zeiten von Twitter denn noch, lange Romane zu vermitteln?
Ja, ich glaube schon, dass das gelingt. Ich würde das auch nicht konfrontativ sehen im Sinne von: die digitale Welt auf der einen Seite, gegen die wir auf der anderen angehen müssen. Man muss jungen Leuten einfach zeigen, dass es noch andere Erzählungen mit anderen Arbeitsformen gibt und dass man manchmal auch länger braucht, um Geschichte kennenzulernen. Und dass die Art und Weise, mit der man sich im Internet bewegt, nicht für jede Erzählung und jede Erforschung von Zusammenhängen geeignet ist. Es geht um ein Aufdecken von alternativen Denk- und Arbeitsformen!
Das Gespräch führte Jochen Kürten.
Christian Schärf: Die Reise des Zeichners, Eichborn Verlag 2016, 334 Seiten, ISBN 9783847906148