Schweigen für die Opfer
24. März 2016Eine Minute kann ewig dauern. Und doch ist sie nicht mehr als ein kurzes Innehalten. Ein flüchtiges Gedenken an das lebenslange Leid von Menschen, die ihre Liebsten verloren haben und alleine im Leben zurück geblieben sind.
Am 24. März um 10.41 Uhr wird es eine solche Schweigeminute geben - vor der Sankt Sixtus-Kirche in Haltern am See. Denn genau um diese Uhrzeit zerschellte vor einem Jahr die Germanwings-Maschine in den französischen Alpen. Alle Menschen an Bord des Germanwing-Flugs 9525 von Barcelona nach Düsseldorf kamen ums Leben.
Unter den Todesopfern waren auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Halterner Joseph-König-Gymnasiums. Die 37.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen wandelt seit der Katastrophe auf dem schmalen Grad zwischen täglicher Routine und regelmäßigen Gedenken.
"Da ist nichts vernarbt"
"Die Stadt versucht, wieder in ihren normalen Modus zu kommen. Wir wollen ganz bewusst mit diesem Unglück weiterleben, es ist Bestandteil unserer Stadtgeschichte, und wir wollen die Opfer nicht vergessen", erklärt Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel. Die Eltern und Geschwister seien natürlich noch mit der Aufarbeitung beschäftigt. Klimpel: "Da ist noch nichts vernarbt."
Abschied nehmen, das Unfassbare verstehen, im Angesicht des Todes weiterleben – die Angehörigen und Freunde der Opfer haben sich seit dem 24. März 2015 in vielen Gedenkfeiern, Gottesdiensten und Begegnungen gegenseitig Trost zugesprochen und gemeinsam getrauert.
Der Jahrestag des Flugzeugabsturzes könnte nun für viele von ihnen zu einer neuen Belastungsprobe werden. "Man trägt die Trauer wie eine Narbe auf der Stirn", meint Bärbel Friederich vom Verein der Verwaisten Eltern und Geschwister aus Hamburg. "Am 1. Jahrestag bricht die Narbe wieder auf."
"Die Lücke bleibt"
Bärbel Friederich hat diesen Schmerz am eigenen Leib erfahren. Ihre Tochter Wiebke starb 1993 im Alter von 16 Jahren an einer Meningokokken-Infektion. "Nach einem Jahr wird nicht alles gut", weiß sie, "die Lücke bleibt, der Mensch fehlt einem ein Leben lang".
Auch der Theologe und Trauerbegleiter Georg Schwikart kennt das: "Die Trauer holt dich immer wieder ein. Bei einer unvorhersehbaren Katastrophe wie einem Flugzeugabsturz oder einem Terroranschlag hatten die Angehörigen keine Zeit, Abschied zu nehmen, das muss nachgeholt werden", sagt er.
Der Seelsorger kennt den Druck auf die Angehörigen, schnell wieder in den Alltag zurückzukehren und "zu funktionieren". Nach einer gewissen Zeit werde das Verständnis für die Trauernden geringer. "Die Öffentlichkeit geht zur Tagesordnung über, es scheint klar, die nächste Katastrophe kommt bestimmt."
Ein Rückblick auf die Ereignisse seit dem 24. März 2015 zeigt, in welch erschreckendem Ausmaß diese Aussage zutrifft. Die Bilder von verzweifelten, versteinerten und fassungslosen Menschen bringen Tod und Trauer immer wieder aufs Neue zum Ausdruck, zuletzt nach dem Anschlag auf dem Flughafen von Brüssel.
"Blick nach vorn"
Umso wichtiger sind die Rituale der Trauerarbeit und Verbundenheit, die dem Verdrängen und Vergessen entgegenarbeiten. An den Flughäfen in Barcelona und Düsseldorf wurden bereits am Nachmittag vor dem Jahrestag Gedenktafeln für die Opfer des Germanwings-Flugs 9525 enthüllt.
Doch nicht alle Angehörigen der Opfer wollen es bei der stillen Trauer belassen. Viele drängen darauf, dass der Mutterkonzern von Germanwings, Lufthansa, die Verantwortung für die Katastrophe übernimmt.
34 Familien wollen eine Klage gegen die Lufthansa-Flugschule im US-amerikanischen Arizona einreichen, wo der Co-Pilot Andreas Lubitz seine Ausbildung absolvierte. Der 27-Jährige, der die Maschine in den Alpen zum Absturz brachte, war seit langem psychisch krank und wurde dennoch als flugtauglich erachtet.
In Haltern am See werden am Jahrestag der Flugzeugkatastrophe alle Kirchenglocken läuten. Doch die meisten Angehörigen verbringen die Schweigeminute nicht in Haltern, sondern nehmen an einer Gedenkfeier in der Nähe des Absturzorts in Frankreich teil. Der gemeinsame Gottesdienst von Schule und Stadt ist erst nach Ostern am 4. April geplant.
"Trauer ist unheimlich anstrengend, aber man kann wieder ein glücklicher Mensch werden", meint Seelsorger Schwikart. Wer es schaffe, sich immer wieder Hilfe zu holen und auf Menschen zuzugehen, der habe es einfacher.
Die Schüler vom Joseph-König-Gymnasium scheinen genau diesen Weg eingeschlagen zu haben. Sie kehrten am 18. März wohlbehalten von einem Besuch bei der spanischen Partnerschule in Barcelona zurück. Schulleiter Ulrich Wessel gibt sich optimistisch: "Es war ein Fahrt im Gedenken, aber mit dem Blick nach vorne."