Sierens China: Diplomatisches Wettrüsten
2. Mai 2018Für die Koreaner war es wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Beim historischen Gipfeltreffen zwischen Kim Jong Un und Südkoreas Staatspräsident Moon Jae In am vergangenen Freitag wirkte die hochgerüstete Grenze zwischen den beiden verfeindeten Nachbarstaaten zum ersten Mal wie ein Gartentor, durch das man nach Belieben hinaus und wieder hinein spazieren kann. Und der als unberechenbar verschriene Diktator aus dem Norden wirkte plötzlich menschlich, lachte, zeigte sich charmant an der Seite seiner Schwester und feixte, er wolle seinen südkoreanischen Kollegen nie mehr morgens mit unangekündigten Atomtests um den Schlaf bringen.
In Südkorea verfolgten die Menschen das Treffen wie ein Fußballspiel per Public viewing. Die Angst vor einem Atomschlag, die während des Kalten Krieges auch in Europa allgegenwärtig war, gehört hier noch immer zum Alltag. Doch jetzt dürfen die Menschen auf der koreanischen Halbinsel aufatmen. Eine neue "Ära des Friedens" soll beginnen. Kim will bereits im Mai seine Atomtestanlagen schließen. Bis zum Ende des Jahres soll das 1953 geschlossene Waffenstillstandsabkommen zwischen Süd- und Nordkorea in einen Friedensvertrag umgewandelt werden. Der Koreakrieg ginge damit nach 65 Jahren endlich auch formal zu Ende.
Trump, der Strippenzieher in Korea?
Donald Trump, der in den vergangenen Monaten vor allem mit Sanktionen und Verbalschlachten eine Eskalation des Konfliktes provoziert hatte, inszeniert sich nun als geheimer Strippenzieher. "Die USA sollten sehr stolz sein auf das, was aktuell in Korea passiert", verkündete er auf Twitter. China gegenüber gab er sich gönnerhaft: Man solle bei allem Erfolg nicht "die große Hilfe vergessen, die mein guter Freund, Präsident Xi, für die USA geleistet hat, besonders an der Grenze zu Nordkorea. Ohne ihn wäre es ein viel längerer und härterer Prozess geworden", so der US-Präsident. Wie ein Chef, der jovial Lob verteilt oder wie bei Macrons Staatsbesuch dessen Schuppen vom Jackett wischt.
Für Trump sind die Rollen klar verteilt: Er ist der Macher und Xi der Helfer, der am Verhandlungstisch höchstens die zweite Geige spielt. Wenn Kim und Trump Ende Mai oder Anfang Juni zu einem weiteren historischen Gipfel aufeinandertreffen, wird Washington versuchen, China noch stärker auf diese Rolle zu fixieren.
Von außen wirkt es nun so, als hätte Peking in der unerwartet rasanten Annäherung den Anschluss verloren. In der Friedenserklärung von Pamunjom werden "trilaterale Gespräche der beiden Koreas mit den USA" angekündigt oder "Vierergespräche, die China miteinschließen". Das Land, das in dem koreanischen Stellvertreterkrieg vor 65 Jahren über 150.000 Soldaten verlor, steht auch hier nur noch an zweiter Stelle. Angeblich möchte Kim auch nur Experten und Journalisten aus den USA und Südkorea einladen, um die Schließung der Atomanlage in Punggye-ri im Nordosten des Landes zu dokumentieren, wo bisher alle sechs nordkoreanischen Atomtests stattfanden.
Kim hat China genauestens informiert
Doch der Eindruck täuscht. Zum einen stammen die Informationen über Kims Pläne vor allem vom südkoreanischen Präsidenten Moon, der, man weiß nicht warum, sämtliche Regierungserklärungen aus dem Norden verkünden durfte. Zum anderen wurde Nordkoreas "oberster Führer" nach seinen überraschenden Friedensangeboten in Richtung Süden nicht ohne Grund zuallererst bei Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping vorstellig. Seine Überraschungsreise nach Peking Ende März war Kims erster Auslandsbesuch überhaupt, seitdem er vor sieben Jahren die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Was bei der "strategischen Kommunikation" - so nannten es beide Seiten - besprochen wurde, wissen nur Xi und Kim. Aber so viel ist klar: Kim wird seinen großen Nachbarn genauestens über seine Pläne informiert haben.
Kim braucht China als wirtschaftlichen Partner vor Ort. Und als politischen Partner, um die eigene Position gegenüber den USA auszutarieren. Auch Südkorea braucht China nun mehr als die USA. Denn China ist der wichtigste Wirtschaftspartner der Südkoreaner, während der militärische Schutz, den die USA bieten, durch einen weniger bedrohlichen Kim nicht mehr ganz so wichtig ist. Das haben die Militärs in Washington sehr schnell verstanden. Trump offenbar noch nicht. Da geht es auch um Geld. Die 30.000 US-Soldaten, die in Südkorea stehen, werden zur Hälfte von Südkoreanern bezahlt. Nur stellt sich die Frage: wie lange noch?
Deng als Vorbild für Kim?
Hinzu kommt: Nicht nur geographisch, sondern auch ideologisch steht Pjöngjang Peking näher als dem Wertesystem Washingtons - ein möglicher amerikanischer Nichtangriffspakt hin oder her. Kim will offensichtlich den Weg einschlagen, den der Reformer Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre für China gewählt hat: wirtschaftliche Öffnung zuerst. Politische Öffnung später - viel später. Darüber sollte man sich trotz der Charmeoffensive des in der Schweiz ausgebildeten Herrschers keine Illusionen machen. Auch nicht darüber, dass China den Amerikanern in der Region größeren Spielraum geben wird. Überall in Asien ist es das Ziel der Chinesen, die Amerikaner zurückzudrängen. Auf den Philippinen ebenso wie in Pakistan oder Vietnam.
Kim wiederum hat eine wertvolle Verhandlungsmasse, um in dem Spiel nicht unter die machtpolitischen Räder zu kommen: Peking möchte in jedem Fall Nordkorea als militärische Pufferzone zwischen den amerikanischen Stellungen im Süden und der chinesischen Grenze im Norden erhalten. Dafür braucht die chinesische Regierung einen starken Kim.
Wirtschaftliche Interessen Pekings in Nordkorea
Und Peking ist sehr an den Bodenschätzen der Nordkoreaner interessiert. Nordkorea verfügt über große Vorkommen an Kohle, aber auch an Gold, Silber und seltenen Erden, die noch wenig erschlossen sind. Diese Schätze will Peking so nah vor seiner Haustür nicht anderen überlassen.
Auch deshalb befindet sich Chinas Außenminister Wang Yi derzeit zu Gesprächen in Nordkorea. Er wird Kim außenpolitisch beraten und so sicherstellen, dass der Prozess trotz des unkalkulierbaren Trump ohne große Schwierigkeiten verläuft. Es stehen sogar Pläne im Raum, dass Xi im Juni selbst für einen Staatsbesuch nach Pjöngjang reisen könnte. Eine Einladung hat Kim bei seinem Peking-Besuch persönlich ausgesprochen. Kim tut nun gut daran, keine hektischen Schritte zu machen. Denn gelaufen ist der diplomatische Machkampf zwischen den USA und China um Nordkorea noch lange nicht.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.