Kampf um die Stimmen vom Dorf
28. April 2019Raquel Clemente hat sich entschlossen, für die Menschen in den ländlichen Gebieten Spaniens einzutreten. Die 36-Jährige hat fast ihr ganzes Leben in dem kleinen Dorf Celadas in der östlichen Provinz Teruel verbracht. Jetzt stellt sie sich für die konservative Volkspartei PP zur Wahl, um am Sonntag Abgeordnete für ihre Provinz zu werden.
"Ich lebe hier wirklich gerne", sagt Clemente, "und es würde mich sehr glücklich machen, Teruel im Parlament zu vertreten." 300 Einwohner zählt ihr Dorf, es gibt eine Bäckerei, die nur eine Stunde am Tag geöffnet ist, und eine Bar. Clemente schwärmt von der Dorfgemeinschaft: "Wir sind wie eine große Familie. Jede gute Nachricht wird von jedem hier gefeiert, selbst wenn sie gar nicht uns alle betrifft."
Das "leere Spanien"
Das Dorf Celadas ist Teil des sogenannten "leeren Spaniens". Damit sind weite Teile des dünnbesiedelten ländlichen Raums gemeint. Regierungsangaben zufolge liegt die Bevölkerungsdichte in fast der Hälfte aller spanischen Gemeinden bei weniger als 12,5 Einwohnern pro Quadratkilometer. Das stuft die Europäische Union als geringe Dichte mit Entvölkerungsrisiko ein.
Für die Spanier ist es die dritte Parlamentswahl in dreieinhalb Jahren. Erst im Juni 2018 war Ministerpräsident Pedro Sánchez ins Amt gekommen. Schon Anfang 2019 scheiterte die Minderheitsregierung seiner Sozialistischen Arbeiterpartei PSOE daran, ihren Haushaltsentwurf vom Parlament abgesegnet zu bekommen, sodass er Neuwahlen ansetzte.
Im Parlament stellt das "leere Spanien" 101 der 350 Abgeordneten. Zum ersten Mal könnten die beiden etablierten Parteien - die konservative PP und die sozialistische PSOE - einen erheblichen Teil dieser Mandate an kleinere Parteien verlieren, sagt Pablo Simón, Politikwissenschaftler an der Universität Carlos III. in Madrid.
Jeder Prozentpunkt zählt
Simón erklärt der Deutschen Welle, wie die Sitzverteilung in Provinzen wie Teruel mit nur drei Mandaten funktioniert. Die Siegerpartei muss doppelt so viele Stimmen auf sich vereinen wie die Partei auf Platz drei, um zwei der drei Sitze zu erringen - dann geht die Drittplatzierte leer aus. Ist der Abstand zwischen den beiden geringer, so bekommen die drei Parteien mit den meisten Stimmen je einen Sitz.
Die Wahrscheinlichkeit für das letztgenannte Szenario ist nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers gestiegen, angesichts des Aufstiegs kleinerer Parteien wie der linken Unidas Podemos, der rechtsradikalen Vox und der liberalen Ciudadanos.
Eine stabile Regierung zu bilden, werde für die traditionellen Parteien viel komplizierter, selbst wenn sie insgesamt die meisten Stimmen bekommen sollten, ergänzt Simón. "Es sieht so aus, als wenn das lange bestehende Zweiparteiensystem an sein Ende kommt."
Überzeugungsarbeit leisten
Die alteingesessenen Parteien versuchen, den Vorhersagen zu trotzen. Raquel Clemente besucht das nahegelegene Dorf Cuevas Labradas und seine 130 Einwohner. Die lokale PP-Regierung konnte vor kurzem jemanden überzeugen, den einzigen Laden und die einzige Bar des Ortes zu betreiben - indem keine Miete verlangt wird. Drei Jahre lang hatte das Dorf kein Lebensmittelgeschäft.
Clemente verteilt Flyer mit dem Konterfei des PP-Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt, Pablo Casado. Sie erzählt den Menschen an den Tischen, wie ihre Partei die Infrastruktur verbessern möchte, Landwirte finanziell unterstützen und ländliche Regionen mit schnelleren Internetverbindungen versorgen will.
María Jesús Garfella, eine der Einwohnerinnen, scheint von den Plänen der Partei überzeugt: "Was sie sagt, klingt sehr interessant. Jetzt müssen sie die Maßnahmen nur umsetzen." Miguel Angel Fortea am Nebentisch sieht das anders: "Unsere Provinz ist total isoliert. Wir haben keine vernünftige Infrastruktur. Unsere Züge fallen auseinander und sind ziemlich langsam." Er sei nicht sicher, ob er überhaupt wählen gehe. "Ich vertraue der politischen Klasse nicht mehr. Sie versprechen das Blaue vom Himmel, aber am Tag nach der Wahl vergessen sie uns wieder."
Nur einen Monat vor der Parlamentswahl verabschiedete der Ministerrat der sozialistischen Regierung einen Katalog mit 70 Maßnahmen, mit denen der Entvölkerung des ländlichen Raums entgegengewirkt werden soll. Kritiker warfen der Regierung prompt vor, damit nur auf Stimmenfang gehen zu wollen.
Rund 40 Kilometer vom Dorf Cuevas Labradas entfernt führt der Bürgermeister des Ortes Mezquita de Jarque, Herminio Sancho, durch die Räume des neuen Kindergartens. Spielzeug liegt auf dem Boden, an die Wände sind bunte Bilder gepinnt. Sancho, der auch Spitzenkandidat der PSOE für die Region ist, sagt, er habe hier sein ganzes Leben verbracht und kenne das Leben auf dem Land. "Die Wähler sollten uns vertrauen, dass wir ihre Interessen verteidigen", so sein Appell.
"Unsere Partei hat viel für die ländlichen Gebiete getan", sagt Sancho. "Wir haben auch einen neuen Van gekauft, um die älteren Kinder zu den Schulen in der Umgebung zu fahren." Derzeit arbeiteten sie daran, eine neue Fabrik zur Verarbeitung von Schinken ins Dorf zu holen. "Das würde 25 Arbeitsplätze schaffen, was für eine Kommune mit 100 Einwohnern beachtlich ist", so der Bürgermeister.
Kleinere Parteien dagegen verwenden die Bilanz der PP und PSOE gegen sie. Wie Maru Díaz von der linksgerichteten Unidas Podemos. Auch sie verteilt Infoblätter, allerdings in der gleichnamigen Provinzhauptstadt Teruel.
Neue Parteien = Neuanfang?
Mit ihrem bunten Kleid und dunkelroten Lippenstift verspricht die 28-Jährige frischen Wind in die Politik zu bringen - und einen Neuanfang. "Die traditionellen Parteien haben Spanien 40 Jahre lang regiert und sind dafür verantwortlich, dass es auf dem Land immer menschenleerer wurde", sagt Díaz. "Die Leute sollten den Mut haben, für unser innovatives Programm zu stimmen. Das wird die Menschen aufs Land zurückbringen." Sie verspricht den Bau neuer Straßen und Zuglinien und mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen.
Eine andere kleine Partei, die im "leeren Spanien" eine große Rolle spielen könnte, ist die rechtsradikale Vox. Vor fünf Jahren gegründet, hatte sie erstmals im Dezember bei der Wahl in Andalusien Sitze in einem Regionalparlament gewinnen können. Vorhersagen gehen von mindestens zehn Prozent für Vox am Sonntag aus.
Die meisten dieser Stimmen werden vermutlich vom Land kommen, glaubt José Fernandez-Albertos, Politikwissenschaftler am Madrider Institute of Public Goods and Policies, das Teil einer öffentlichen Forschungseinrichtung ist. "Die Menschen im 'leeren Spanien' sind eher älter und konservativer. Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass sie für Vox abstimmen." Er erwartet, dass dadurch die Stimmen im rechten politischen Spektrum aufgesplittert werden.
Raquel Clemente von der etablierten PP wünscht sich, dass die Wähler es sich zwei Mal überlegen, bevor sie für eine der kleinen Parteien stimmen. "Sie sollten das meiste aus ihrer Stimme machen. Wenn wir Konservativen nur wenige Sitze bekommen, können wir nicht viel für die Leute auf dem Land tun."
Gut möglich, dass ihr Appell ungehört verhallt. Nach allen Vorhersagen wird die Wahl am Sonntag zeigen, dass die Spanier im ganzen Land das Vertrauen in die traditionellen Parteien verloren haben. Um das zurückzugewinnen, braucht es mehr als nur Versprechen.