"Srebrenica kann überall geschehen"
11. Juli 2020Am 11. Juli 1995 begann für die Bewohner von Srebrenica eine Katastrophe: Bosnisch-serbische Soldaten unter dem Kommando von Ratko Mladić marschierten in die Stadt ein und töteten in den darauffolgenden Tagen rund 8000 muslimische Jungen und Männer. Es war das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Seit 1999 identifiziert die Internationale Kommission für Vermisste Personen (International Commission on Missing Persons, ICMP) mit DNA-Analysen die Opfer.
DW: 25 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica mehren sich Stimmen - darunter die des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke -, die sagen: Die Verbrechen im Bosnienkrieg könne man nicht Völkermord nennen. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?
Kathryne Bomberger: Ich finde es absolut empörend, dass dies in Frage gestellt wird. Insbesondere was die Vermissten von Srebrenica angeht, ist dies der am genauesten dokumentierte Völkermord der Geschichte. Zu sagen, dies sei nie passiert, um eine Gegenerzählung zu schaffen, ist haarsträubend. Denn die Fakten sind sehr gut belegt. Und zwar durch Ausgrabungen, die gut dokumentiert wurden, nicht nur von der Internationalen Kommission für Vermisste Personen, sondern auch vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und von einheimischen Strafverfolgungsbehörden. Sie waren an jeder einzelnen Ausgrabungsstätte dabei.
Was wurde dabei dokumentiert?
Es wurde versucht, eine ganze Bevölkerung durch ethnische Säuberung auszulöschen - also ein Völkermord. Das ist der einzige Fall von Völkermord, der seit dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden als solcher anerkannt ist. Deshalb wurden nach dem Krieg große Anstrengungen unternommen, diese Verbrechen aufzudecken und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen, die Täter, zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei war wichtig, dass der Staat alle vermissten Personen unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder nationalen Herkunft findet und - in unserem Fall mit Hilfe von DNA - genau identifiziert. Damit die Familien ihre Toten beerdigen können, damit die Opfer Gerechtigkeit erfahren können. Das war der Weg, den wir eingeschlagen haben. Aber er ist noch nicht zu Ende.
Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen?
Wir haben den Staaten in der Region geholfen, mehr als 3000 Massengräber auszuheben und die große Mehrheit der Opfer zu identifizieren. Was Srebrenica angeht, haben wir über 90 Prozent der etwa achttausend Männer und Jungen identifiziert, die verschwunden sind. Allerdings sind noch nicht alle diese Fälle vor Gericht gekommen, vor den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder vor die nationalen Gerichte in Bosnien-Herzegowina. Aber die ICMP hat Beweise für Kriegsverbrechen an diesen Stätten dokumentiert, und die Verwendung von DNA zur Identifizierung der Opfer ermöglichte es, all diese Beweise für Strafverfolgungszwecke zur Verfügung zu stellen. Das muss fortgesetzt werden.
Warum gibt es trotz all dieser Beweise immer wieder den Versuch einer Gegenerzählung, einer Umschreibung der Geschichte?
Wir leben in einer postfaktischen Gesellschaft. Tatsachen werden ausgehöhlt, verdreht für politische Ziele. In einer Zeit zunehmenden Populismus ist das Schaffen solcher Gegenerzählungen, solch unwahrer Geschichtsschreibung, solch irreführender Narrative normal geworden. Ich finde das sehr verstörend. Was hier im Kontext der Balkan-Kriege und von Srebrenica mit den Fakten gemacht wird, ist deshalb eine Spiegelung dessen, was auch im Rest Europas vorgeht. Und nicht nur in Europa, in vielen Teilen der Welt wird Angst vor dem Anderen als Mittel eingesetzt, um Hass zu schüren.
Sie meinen von Politikern?
Man kann ein Land entweder so regieren, dass Toleranz, sozialer Zusammenhalt und Respekt füreinander möglich sind, oder man kann Hass schüren und die Saat für Misstrauen säen. Was im ehemaligen Jugoslawien geschah, ist ein Zeugnis der Gewaltzyklen in Europa. Hier wurden offene Wunden des Zweiten Weltkriegs missbraucht, um Hass zu schüren, anstatt die Menschen zusammenzubringen. Der Missbrauch solcher offenen Wunden, die es in allen Gesellschaften gibt, ist der denkbar schlechteste Weg, ein Land zu führen. Neuseeland, wo die Premierministerin nach dem Anschlag auf die Moschee 2019 die Menschen zusammenbringen konnte, ist dagegen ein Beispiel für gute Führung. Dafür, dass sozialer Zusammenhalt nach einem sehr traumatischen Ereignis wiederhergestellt wird.
Wie wichtig ist dafür Bildung? In Bosnien gibt es immer noch Schulen, in denen gelehrt wird, es habe nie einen Genozid gegeben.
Sie bringen Kindern Lügen bei. Ich denke, man muss Kinder die Wahrheit lehren, und man muss Kindern beibringen, sich gegenseitig zu respektieren und zu lieben. Das ist sehr gut möglich. Aber wenn man sie jeden Tag Lügen lehrt und ihnen jeden Tag Hass beibringt, werden sie hassen. Das ist für mich die Grundlage von allem. Und ich denke, es ist ein trauriges Spiegelbild der bosnischen Gesellschaft, dass wir nach Ethnien getrennte Schulen haben, die im Geschichtsunterricht Gegensätzliches erzählen. Und das ist nicht nur in Bosnien so. Hass zu lehren, das ist das Problem.
Ist das die Botschaft von Srebrenica für uns im Jahr 2020?
Die Botschaft lautet: Srebrenica kann überall geschehen. Schlicht und einfach. Wenn wir nicht aufpassen, hat es verheerende Folgen, wenn wir uns auf diese Art von Hass auf andere einlassen. Srebrenica ist eine Erinnerung daran, wozu wir alle fähig sind, egal aus welchem Land wir kommen. Diese Art von Hass kann ein sehr, sehr schlimmes Ende nehmen. Ich habe Angst. Denn ich denke, so etwas kann wieder passieren.
Die Menschenrechtlerin Kathryne Bomberger leitet seit 2004 die Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP). Die zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Den Haag unterstützt Regierungen und andere Organisationen bei der Suche nach Personen, die zum Beispiel nach Konflikten, Menschenrechtsverletzungen, Katastrophen, organisierter Kriminalität und irregulärer Migration vermisst werden. Sie ist die einzige internationale Organisation, die sich ausschließlich mit vermissten Personen und der Identifizierung von Leichen befasst.
Das Interview führte Frank Hofmann.