Staatenlos in Deutschland - ohne Heimat, kaum Rechte
29. Oktober 2023Ein Bankkonto zu eröffnen, ist ohne Personalausweis schwierig. Ein Hotel zu buchen auch - denn da taucht ja der Button für Staatsangehörigkeit auf. Heiraten ist fast ein Ding der Unmöglichkeit und eine Verbeamtung ausgeschlossen. Für Menschen wie Christiana Bukalo, 29 Jahre, in Deutschland geboren, aber staatenlos, kann der Alltag jederzeit zu einer Herausforderung werden. Sie sagt der DW:
"Man hat keine Reisefreiheit, weil ein Reiseausweis verlangt wird. Man hat Schwierigkeiten, wenn es darum geht, einen Job zu bekommen. Ein Studium anzufangen, ist häufig schwierig, aber auch, es zu beenden. Ich kenne Menschen, die ihr Studium am Ende nicht abschließen konnten, weil sie für die Prüfung am Schluss eine Geburtsurkunde hätten vorweisen müssen. Und staatenlose Personen haben kein Recht zu wählen, auch wenn sie schon immer hier gelebt haben."
Bukalo, Tochter westafrikanischer Eltern mit ungeklärter Staatsangehörigkeit, gehört zu der wachsenden Zahl von Staatenlosen in Deutschland. 126.000 sind es zurzeit. Viele von ihnen sind Palästinenser, Kurden oder auch frühere Bürger der Sowjetunion oder Jugoslawiens, deren Staaten nicht mehr existieren. Es ist ein Leben am Rande der Gesellschaft, von vielen Dingen sind die Staatenlosen ausgeschlossen. Bukalo hat schon von klein auf gelernt, was es bedeutet, keine Nationalität zu besitzen.
"Bereits als Kind bekommst Du vermittelt, Du gehörst nicht dazu. Du sollst nicht hierbleiben, gleichzeitig kannst Du aber auch nicht gehen. Es sind ganz banale Sachen: Schüleraustausch, Sprachreisen, Skifahrten ins Ausland, das ist alles nicht möglich. Und das ist natürlich dann auch mit einem großen Schamgefühl verknüpft, weil man etwas erklären muss, was man nie erklärt bekommen hat."
Statefree: Sprachrohr für Staatenlose
Lange Zeit waren Informationen über und für Staatenlose genauso unsichtbar wie die Staatenlosen selbst. Christiana Bukalo fasste vor zwei Jahren den Entschluss, Staatenlosen eine Stimme zu geben - und gründete in München die Menschenrechtsorganisation Statefree. Das Ziel: Wissenslücken schließen und aufklären, Betroffene zusammenbringen und Staatenlosigkeit sichtbar machen. Aber auch Forderungen an die Politik zu stellen.
"Wir haben in Deutschland eine extreme Reproduktion von Staatenlosigkeit, dadurch, dass kein Umgang gefunden wird mit staatenlosen Kindern, die hier geboren werden. Und wir fordern, dass staatenlose Kinder, die in Deutschland geboren werden, gleich als staatenlos identifiziert werden. Und damit gleichzeitig ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben und dies in den ersten fünf Lebensjahren passiert."
Modernisiertes Einwanderungsgesetz ohne Staatenlosigkeit
Denn in Deutschland zählt die Abstammung, nicht etwa der Geburtsort. Sind die Eltern staatenlos, ist es das Neugeborene auch. Die Folge: Jeder dritte Staatenlose in Deutschland ist minderjährig. Andererseits kennt Bukalo aber auch 65-Jährige, die in Deutschland geboren und immer noch staatenlos sind.
Große Hoffnungen setzte Statefree auf das neue Staatsbürgerschaftsrecht der aktuellen Regierung aus SPD, Grünen und FDP, die sich im Koalitionsvertrag als Fortschrittskoalition bezeichnet hatte. Doch das Thema Staatenlosigkeit taucht im Gesetzentwurf nicht auf.
Eine Sprecherin des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) sagt auf Anfrage der DW: "Die Belange Staatenloser finden im Staatsangehörigkeitsrecht bereits ausreichend Berücksichtigung. Daneben gelten für Staatenlose die allgemeinen Vorschriften zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, da auch Staatenlose Ausländer im Sinne des Staatsangehörigkeitsrechts sind."
Europa diskutiert über Abschiebungen, nicht über Integration
Die Reform des neuen Staatsbürgerschaftsrechtes mit schnellen Einbürgerungen und Anreizen für ausländische Fachkräfte fällt in eine Zeit, in der auch in Deutschland die Debatte über Migration ganz oben auf der politischen Agenda steht. Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, "endlich in großem Stil" Ausreisepflichtige abzuschieben, die Bundesregierung hat gerade schärfere Abschieberegeln beschlossen.
Christiana Bukalo ist daher nicht verwundert, dass sie gerade mit dem Thema Integration von Staatenlosen nicht durchdringt. "Ich erkläre mir dies zum einen mit dem mangelnden Wissen über Staatenlosigkeit in der Politik und zum anderen mit der allgemeinen politischen Lage, dem Rechtsruck in Europa. Die Parteien tun sich gerade schwer damit, für solche vermeintlich 'progressiven' Themen einzustehen, die in anderen Ländern wie Spanien oder Portugal längst zum Status Quo gehören."
Keine einheitlichen Verfahren für Staatenlose vor Gericht
Staatenlosigkeit ist das aktuelle Forschungsprojekt von Judith Beyer. Die Professorin für Ethnologie an der Universität Konstanz ist vor sieben Jahren auf das Thema gestoßen, als sie sich im südostasiatischen Myanmar zur Feldforschung aufhielt. 700.000 Rohingya flohen damals wegen der brutalen Repression von Myanmar nach Bangladesch.
Seitdem arbeitet Beyer als Sachverständige in England vor Gericht, wenn Staatenlose im Asylverfahren stecken. Sie sagt der DW: "Die Staatenlosigkeit ist ein Problem, welches in der öffentlichen Diskussion in Deutschland noch nicht wirklich angekommen ist."
Beispiel Justiz: Während Gutachterinnen wie Judith Beyer in England die Lebensgeschichten von Staatenlosen unabhängig prüfen und ihre Expertise ins abschließende Urteil einfließt, werden in Deutschland selten Sachverständige hinzugezogen. Die Entscheidung liegt also hierzulande häufig allein bei den Richtern.
Vor allem aber gibt es in Deutschland keine standardisierten Verfahren für die Feststellung von Staatenlosigkeit. Die Ausländerbehörde in München entscheidet in einem ähnlichen gelagerten Fall mitunter anders als die in Hamburg oder Köln.
"Im Endeffekt hängt es davon ab, wer auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzt", sagt Beyer. "Das ist es, was viele Staatenlose immer wieder beklagen: Es gebe keine Rechtssicherheit und sei abhängig von der Person und deren Wissensstand. Ganz oft ist es gar keine böse Absicht, sondern schlichtweg fehlendes Wissen, wie man mit staatenlosen Menschen umgehen soll."
Offiziell staatenlos oder ungeklärte Staatsangehörigkeit
Je nachdem, wie die Behörden entscheiden, werden die Menschen entweder zu Staatenlosen erster oder zweiter Klasse. Da sind die rund 30.000 Personen in Deutschland, die wie Christiana Bukalo offiziell als staatenlos anerkannt sind. Sie können nach sechs Jahren eingebürgert werden.
Die meisten allerdings, beinahe 100.000 Menschen, besitzen den Titel einer ungeklärten Staatsangehörigkeit: Geflüchtete, die ihre Identität nicht nachweisen können, so wie die Rohingya, die ausgebürgert wurden. Oder auch Kinder, die zwar in Deutschland geboren sind, aber Eltern mit ungeklärter Staatsangehörigkeit haben. Für sie ist eine Einbürgerung oft erst viel später möglich.
Staatenlos zu sein, sei eine Verletzung der Menschenrechte, sagt die SPD-Politikerin Sawsan Chebli. Sie wurde als staatenloses Kind palästinensischer Eltern in Berlin geboren und erst mit 15 Jahren eingebürgert.
Die Ethnologin Beyer geht noch einen Schritt weiter: "Menschenrechte können nur im Rahmen einer politischen Gemeinschaft, also einem Staat realisiert werden. Das bedeutet, dass staatenlosen Menschen oft das 'Recht, Rechte zu haben‘, wie die Philosophin Hannah Arendt es formulierte, verwehrt bleibt."