Griechenland - Was geschah am Evros?
29. November 2022"Nun ist Maria tot. Sie ist Anfang August an Europas Außengrenzen gestorben, weil ihr griechische Behörden jede Hilfe versagten." Bis vor wenigen Tagen konnte man diese beiden Sätze in einem von vier Artikeln lesen, den das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Spätsommer 2022 veröffentlicht hatte. Anstelle der Reportagen findet man nun einen Hinweis, mit dem das Nachrichtenmagazin mitteilt, dass es inzwischen Zweifel "an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse" gebe. Man wolle die Berichterstattung überprüfen und dann entscheiden, ob die Artikel "gegebenenfalls in korrigierter und aktualisierter Form erneut veröffentlicht werden".
In den zurückgezogenen Artikeln ging es um das Schicksal einer Gruppe von 38 Flüchtenden, vornehmlich aus Syrien, die im Sommer 2022 über Wochen auf einer kleinen unbewohnten Insel im Evros, dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei, festsaßen. Die Gruppe hatte die griechischen Behörden gebeten, sie einreisen zu lassen und war außerdem in Kontakt mit Hilfsorganisationen und Journalisten.
Gestrandet zwischen der Türkei und Griechenland
Der Vorfall zog sich über Wochen hin. Über Whatsapp-Nachrichten baten die Flüchtenden um Hilfe für ein kleines Mädchen, das angeblich von einem Skorpion gestochen worden sei und sich in kritischer Lage befinde. Wenige Tage später teilten sie mit, dass das Mädchen nun gestorben sei und sie es auf der Insel beerdigt hätten. Der Vorfall erregte auch international Aufsehen. Der Europäische Gerichtshof forderte die griechischen Behörden per einstweiliger Verfügung auf, die Menschen aufzunehmen.
Die Behörden reagierten zunächst gar nicht, erklärten dann, man könne die Gruppe nicht ausfindig machen. Später erklärte Athen, die Menschen befänden sich auf der türkischen Seite der Grenze und die griechischen Behörden könnten nicht eingreifen. Erst nach Wochen wurde die Gruppe von der griechischen Polizei gerettet und in eine Flüchtlingsunterkunft gebracht. Migrationsminister Notis Mitarachis erklärte damals vor der Presse, die Menschen seien bei guter Gesundheit.
Gleichzeitig bedauerte er öffentlich den Tod des Mädchens. Dabei gab es gerade daran Zweifel. In griechischen Medien waren schon früh Gerüchte verbreitet worden, das Kind sei gar nicht gestorben - oder es habe nie existiert.
Keine Parallelen zum Fall Relotius
Über den Vorfall am Evros berichtete nicht nur der Spiegel. Auch andere internationale und griechische Medien schrieben darüber, unter anderem die griechische Tageszeitung EFSYN, der katarische Sender Al Jazeera sowie der britische Fernsehsender Channel 4. Die Reportagen dieser Medien sind auch jetzt im Internet abrufbar.
In den deutschen Medien wurde die Entscheidung des Spiegel, die Berichte zurückzuziehen, mit der Affäre um den ehemaligen Spiegel-Reporter Claas Relotius verglichen. Dieser hatte große Teile seiner Reportagen frei erfunden, was dem Ruf des Nachrichtenmagazins nachhaltig schadete.
Eltern fordern Exhumierung ihres Kindes
Die Evros-Berichterstattung des Spiegel aber ist weit entfernt von reiner Fiktion. In der Mediendebatte in Deutschland wird dies kaum berücksichtigt. Vor allem populistische Blogs wie Tichys Einblick oder Medienwatch und Boulevardmedien wie die Bildzeitung stellten den griechischen Korrespondenten des Spiegel, Giorgos Christides, als neuen Relotius dar.
Dabei ist unbestritten, dass unter den 38 geretteten Flüchtlingen ein Elternpaar mit mehreren Kindern ist, das angibt, dass es sein Tochter auf dem Eiland begraben musste und zudem um die Exhumierung des Körpers gebeten hat. Auch die zeitweilig vorgebrachte Behauptung der griechischen Regierung, die Insel gehöre zur Türkei, wurde inzwischen widerlegt. Unabhängige Forscher konnten nachweisen, dass die Staatsgrenze auf der Insel verläuft und der größere Teil zu Griechenland gehört. Athen dementiert dies nicht, behauptet aber nach wie vor, die Flüchtlinge seien auf dem türkischen Teil in Not geraten.
Unabhängige Verifizierung kaum möglich
Der Fall ist komplex und wirft viele Fragen auf, auch hinsichtlich der Medienfreiheit in Griechenland. Auf der von Reporter ohne Grenzen (ROG) erstellten Rangliste der Pressefreiheit ist das Land auf Platz 108 und stellt derzeit das europäische Schlusslicht dar. ROG und das Internationale Presseinstitut verweisen darauf, dass Athen erheblichen Druck auf Journalisten ausübt, besonders wenn es um Fragen der Migration geht.
"Die griechischen Behörden veranstalten eine Hexenjagd nicht nur gegen Flüchtende an sich, sondern auch gegen Nichtregierungsorganisationen, die ihnen helfen, und Journalisten, die über das Thema berichten", erklärt Marina Rafenberg, die als Korrespondentin für Le Monde in Athen arbeitet. Die Arbeit von Journalisten wird in Griechenland zunehmend erschwert, unterstreicht sie. Vor allem am Evros sei unabhängige Berichterstattung kaum möglich, da die Grenze militärisches Sperrgebiet sei.
Tatsächlich ist es am Grenzfluss nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen und Medien inzwischen Gang und Gäbe, Schutzsuchenden die Einreise nach Griechenland zu verweigern. Das aber verstößt gegen nationales und internationales Recht. Trotz erdrückender Beweislage beteuern die griechischen Behörden weiterhin, sich beim Migrationsmanagement an Gesetze zu halten. Dabei verweigern sie trotz internationaler Kritik, dies durch unabhängige Organisationen überwachen zu lassen. Für Rafenberg ein politisches Spiel: "Es geht dabei nicht nur um Migration in Griechenland. Athen beschuldigt Ankara, Flüchtende zu instrumentalisieren, um Griechenland zu schwächen. Wenn man öffentlich über Pushbacks redet, wird man als türkischer Agent bezeichnet."
Rufmordkampagnen anstatt Untersuchung
In den griechischen Medien wird über Vorfälle wie den auf der Evros-Insel kaum berichtet. Immer wieder kommen Menschen beim Versuch, den Grenzfluss zu überqueren, ums Leben, oder stecken über Tage und Wochen zwischen der Türkei und Griechenland fest. Der Fall der 38 Syrer aber hatte auch in Griechenland zu Diskussionen geführt. Seither sei die Stimmung gereizt, berichtet Journalistin Rafenberg: "Regierungsnahe Medien in Griechenland versuchen, die Arbeit von ausländischen Journalisten zu diskreditieren." Einige Kollegen erhielten Anrufe von der Regierung, in denen man ihnen mitteile, dass man unzufrieden mit ihrer Arbeit sei und damit drohe, sich mit einer Beschwerde an die heimischen Redaktionen zu wenden.
Warum der Spiegel alle vier Artikel zum Evros-Vorfall zurückzog und nicht einfach auf die weiteren Entwicklungen im Falle des kleinen Mädchens hinwies, bleibt fraglich. Bisher liegen auch von griechischer Seite keine Beweise dafür vor, dass das Kind nicht starb oder nicht existierte. Feststeht, dass die Eltern des Mädchens weiterhin daran festhalten, dass ihre Tochter am Evros gestorben sei. Fest steht auch, dass die Eltern mit ihren anderen Kindern und den übrigen Mitgliedern der Gruppe wochenlang auf einer Insel im Grenzfluss festsaßen. Solange Athen aber eine internationale und unabhängige Klärung des Vorfalls verhindert, wird es weiterhin keine definitiven Antworten auf die vielen offenen Fragen geben.