Atomkraft - Ja bitte!
18. Mai 2009Zu Fuß sind es gerade mal fünf Minuten zum EU-Parlament und bis zur Europäischen Kommission vielleicht drei Minuten mehr: Sami Tulonen sitzt strategisch günstig in seinem Büro an der Rue Belliard in Brüssel. Tulonen ist Chef-Lobbyist bei Foratom, dem Dachverband der europäischen Atombranche. In seinem Job sind kurze Wege ins Zentrum der Macht durchaus wichtig. "Wenn in der Kommission oder dem Parlament irgendwas diskutiert wird, was mit Energie zu tun hat, ist mein Team da, um sicherzustellen, dass die Nuklearindustrie dabei Gehör findet", sagt Tulonen.
Atomfreundliche Haltung des Parlaments
Im Europäischen Parlament gelingt die Lobbyarbeit Tulonen durchaus: Bereits Ende 2005 unterschrieb eine Reihe Abgeordneter die von Foratom initiierte "Erklärung zu Klimawandel und Nuklearenergie". Zu den Unterzeichnern gehörten damals auch die deutschen CDU-Parlamentarier Herbert Reul und Daniel Caspary. In dem Papier heißt es: "Die Nuklearenergie sollte eine zunehmend zentrale Rolle spielen im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel und ein Pfeiler der EU-Energie- und Umweltpolitik bleiben. Wir sind fest davon überzeugt, dass die verstärkte Nutzung von Atomkraft - der größten Einzelkomponente im Kampf gegen den Klimawandel -wesentlich ist."
Seitdem hat das Parlament in mehreren Abstimmungen seine eher atomfreundliche Haltung mehrfach bekräftigt. Zuletzt im Februar forderten die Abgeordneten, die Atomkraft solle auch weiterhin Teil des Energiemixes bleiben. In einem Initiativbericht verlangten sie damals außerdem, dass "unverzüglich einheitliche rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um die notwendigen Investitionsentscheidungen zu ermöglichen" und forderten die EU-Kommission auf, "einen konkreten Fahrplan für Investitionen in die Kernenergie" zu erstellen.
Das sind Worte, die Tulonen gefallen dürften. Der EU-Abgeordneten Rebecca Harms von den Grünen dagegen behagt die mehrheitliche Pro-Atom-Haltung des Parlaments überhaupt nicht. Viele ihrer Amtskollegen, findet sie, lassen sich vor den Karren der Atombranche spannen. "Die Klimadiskussion - wenn man böse denkt, müsste man sagen, die Atomindustrie hätte das erfinden müssen, um tatsächlich wieder Morgenluft zu wittern", sagt Harms. "Ich kenne keinen anderen Fall, in dem eine große Industrie so sehr versucht, Nutzen aus einem großen globalen Problem zu ziehen wie es die Atomindustrie im Fall der Klimaproblematik tut."
Atomkraft als Teil des europäischen Energiemixes
Doch Harms mag noch so viel Kritik üben - die Zahl der Atom-Befürworter in Europa wächst offensichtlich: Laut einer Eurobarometer-Umfrage im Auftrag der EU-Kommission sprachen sich im Jahr 2008 knapp 45 Prozent der Europäer für Kernenergie aus. Drei Jahre zuvor waren es noch sieben Prozent weniger gewesen. Auch die Europäische Kommission selbst hat einen ähnlichen Sinneswandel vollzogen.
Das zeigt sich vor allem daran, dass die Brüsseler Behörde die Atomkraft mittlerweile ganz offiziell als Teil des europäischen Energiemixes der Zukunft bezeichnet. Nach dem GAU in Tschernobyl war das lange Jahre völlig undenkbar - doch diese Zeiten scheinen vorbei. Foratom-Cheflobbyist Tulonen schreibt diese neue Grundhaltung ganz offen auch seiner eigenen Arbeit zu. "Im Vergleich zu vor fünf Jahren haben wir eine riesige Zahl von Kontakten, die regelmäßig mit uns reden - und das ist natürlich der größte Wert unserer Arbeit. Denn ohne Kontakte kann man keine Lobbyarbeit machen", sagt er. "Aus unserer Perspektive ist der größte Erfolg, an dem wir mitbeteiligt waren, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Atomkraft ein Teil der Problemlösung ist. Und ich denke, das spiegelt sich in vielen Entscheidungen und Stellungnahmen der EU-Kommission und des EU-Parlamentes wider."
Wo die Drähte der Atomwirtschaft überall verlaufen, hat in jüngerer Vergangenheit vor allem der Fall des ehemaligen Europa-Abgeordneten Rolf Linkohr offenbart: Nach Ende seiner Amtszeit arbeitete er als Sonderberater für EU-Energiekommissar Andris Piebalgs, wurde aber im Jahr 2007 entlassen. Damals war bekannt geworden, dass Linkohr zeitgleich im Beirat des Atomkraftwerk-Betreibers EnBW saß und mit einer privaten Firma Energieunternehmen beriet. NGOs wie das Corporate Europe Observatory CEO, das die Verflechtungen von Lobby und Politik kritisch unter die Lupe nimmt, sahen darin einen Interessenskonflikt und machten öffentlich Druck.
Bis heute, so heißt es bei CEO, fehle es an Transparenz. Die Kommission lasse sich von verschiedenen Expertengruppen beraten und bei vier oder fünf davon gehe es auch um den Atomsektor, sagt CEO-Mitarbeiter Yiorgos Vassalos. "Meistens haben wir keinen Zugang zu den Sitzungsprotokollen - und manchmal nicht mal zu den Teilnehmerlisten. Ganz grundsätzlich ist es schwierig, etwas über die Verbindungen der Entscheidungsträger mit der Nuklearlobby herauszufinden."
Einflussreiche Atomlobby in Brüssel
Und dabei gilt die Atomlobby in Brüssel - ähnlich wie die Autoindustrie - als eine der einflussreichsten und finanzstärksten: Auf gut 1,6 Millionen Euro belief sich das Budget, das Foratom im Jahr 2007 für seine Lobbyarbeit bei den EU-Organen ausgegeben hat - laut Selbstauskunft der Organisation im Internet. Eine gewaltige Summe, findet Yiorgos Vassalos. "Verglichen mit Nichtregierungsorganisationen ist das eine ganz anderes Universum."
Es ist die alte, fast religiöse Grundsatzfrage, um die Foratom und andere Atomkraft-Befürworter mit Kritikern wie Rebecca Harms bis heute streiten: Braucht Europa die Kernenergie oder kommen wir mit Alternativen aus? Jede Seite verteidigt ihre Argumente mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Und Cheflobbyist Tulonen ist fest davon überzeugt, dass sein Team mit seiner Überzeugungsarbeit auch in Zukunft Erfolg haben wird: Atomenergie hat eine Zukunft in Europa, da ist er sich sicher.
Autorin: Mirjam Stöckel
Redaktion: Mareike Röwekamp