Sturz-Risiko und Angst: Debatte über Sicherheit im Radsport
5. April 2024Es waren schwer zu ertragende Bilder bei der vierten Etappe der Baskenland-Rundfahrt: Minutenlang hatte Tour de France-Sieger Jonas Vingegaard regungslos am Straßenrand gelegen, bevor er von den Sanitätern versorgt und ins Krankenhaus gefahren wurde. Sein Team gab später bekannt, dass sich der Däne das Schlüsselbein und mehrere Rippen gebrochen und eine Lungenquetschung erlitten hat.
Nur wenige Meter von ihm entfernt lagen zwei seiner ärgsten Konkurrenten für die Ende Juni startende Tour de France. Der Belgier Remco Evenepoel hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Schlüsselbein, während Primoz Roglic aus Slowenien - ebenfalls ein Fahrer, der für die Top-Platzierungen der Tour infrage kommt - über den Asphalt humpelte und dann immerhin im Teamwagen die Unfallstelle verlassen konnte.
Sekunden zuvor war der Eritreer Natnael Tesfatsion auf der Straße weggerutscht und hatte so einen Massensturz verursacht, in dem rund ein Dutzend weitere Fahrer involviert waren.
Stürze häufen sich
Viele Radprofis nutzen die Baskenland-Rundfahrt, um sich für die großen Rundfahrten im Sommer vorzubereiten, die Tour de France (29. Juni bis 21. Juli) und vorher den Giro d'Italia (4. bis 26. Mai). Nun scheint fraglich, ob einige der Mitfavoriten überhaupt am wichtigsten Etappen-Rennen der Saison teilnehmen können.
Der Crash ist bereits der zweite schlimme Vorfall im Radsport innerhalb kürzester Zeit. Vor rund einer Woche bot sich beim Eintagesrennen "Quer durch Flandern" ein ähnliches Bild. Besonders schlimm erwischte es bei dem Massensturz den Belgier Wout Van Aert. Der neunmalige Tour-Etappensieger verlor bei hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über sein Rad und brach sich das Schlüsselbein und mehrere Rippen.
Abseits der Rennen ereignete sich am Mittwoch außerdem ein Trainingsunfall des deutschen Rennfahrers Lennard Kämna auf Teneriffa. Nach Angaben seines Rennstalls Bora-hansgrohe habe ihm ein entgegenkommendes Fahrzeug die Vorfahrt genommen. Kämna erlitt zahlreiche Verletzungen, befindet sich aber in stabilem Zustand.
Suche nach Ursachen
Neben der Sicherheit der Fahrer stellt sich nun Frage nach den Gründen für die Häufung der Stürze. Als Ursache für den Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt führte der Spanier Mikel Bizkarra, der in der Gegend wohnt, in der es zum Crash kam, Straßenschäden als möglichen Auslöser an.
Der deutsche Radprofi Simon Geschke sah die Schuld dagegen eher bei den Fahrern: "Die waren einfach zu schnell", sagte der 38-Jährige, der für das Cofidis-Team an der Baskenland-Rundfahrt teilnimmt und nach der Saison seine Karriere beenden wird. "Die Straße war gut, es war trocken. Es war keine Kurve, die völlig überraschend kam."
"Es ist diese Wer-bremst-verliert-Mentalität", so Geschke weiter, der weiter hinten im Feld war und an den gestürzten Kollegen vorbeirollte. "Jeder wollte in die ersten Zehn in dieser Abfahrt rein. Und wenn dann keiner bremst, dann passiert so etwas."
Dass vermehrt sehr junge Athleten direkt aus den Juniorenklassen in die WorldTour und kämen und sich dort risikoreich beweisen wollten, sah der deutsche Klassikerspezialist Nils Politt als eine mögliche Ursache ein erhöhtes Sturz-Risiko an. "Allgemein ist das Stresslevel deutlich höher", so Pollit gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ).
Während es früher normal war, dass bei einem Klassiker-Rennen von rund 200 Kilometern Renndistanz erst einmal einige Zeit lang gemütlich und im versammelten Feld gefahren wurde, gäbe es heutzutage kaum Ruhephasen. "Die Rennen werden immer schneller und immer früher eröffnet."
Allerdings sieht Politt kein strukturelles Sicherheitsproblem im Radsport, sondern stellt eher die Veränderungen am Equipment in den Vordergrund. "Wir werden immer schneller, weil das Material immer weiterentwickelt wird", sagte er. "Von Aero-Helmen oder Stoffen für das Trikot, die besser im Wind stehen, bis hin zu Laufrädern - alles wird schneller, alles wird besser."
Entschärfung von Schlüsselstelle bei Paris-Roubaix
Neben den Fahrern sind auch verschiedene Streckenabschnitte oder gar ganze Etappen in der Kritik. Der Sturz bei "Quer durch Flandern" ereignete sich in einer besonders schnellen Abfahrt, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit aus der prestigeträchtigen Flandern-Rundfahrt gestrichen worden war. Bei "Quer druch Flandern" blieb sie drin - mit schlimmen Folgen.
Auch die Organisatoren des Klassikers Paris-Roubaix, auch die "Hölle des Nordens" genannt, haben auf die schlimmen Stürze bereits reagiert. Wie die Veranstalter mitteilten, soll beim Rennen am Sonntag kurz vor der Einfahrt in die 2400 Meter lange Kopfsteinpflaster-Passage des berühmt-berüchtigten Waldes von Arenberg eine Schikane eingebaut werden, um das Fahrerfeld von 60 auf etwa 30 Stundenkilometer abzubremsen.
Allerdings kommt die Schikane bei vielen Profis gar nicht gut an. "Die Anfahrt in den Wald ist vielleicht der gefährlichste Moment der ganzen Saison. Ich fühle mich in diesem Moment auch nicht wirklich wohl im Peloton", sagte der Vorjahressieger in Roubaix, Mathieu van der Poel: "Aber ich denke, die Schikane wird es noch gefährlicher machen."
"Lassen Sie uns das Massaker beenden", formulierte es Thierry Gouvenou, Renndirektor von Paris-Roubaix, etwas martialisch. Der frühere Profi forderte in der französischen Sport-Tageszeitung "L'Équipe" eine Grundsatzdebatte: "Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken." Es sei an der Zeit, sich Grenzen zu setzen.
Die Angst fährt mit
Trotz aller Verbesserungsvorschläge werden sich Stürze in Hochgeschwindigkeitssportarten jedoch wohl auch in Zukunft kaum vermeiden lassen. Jan Bakelants, ehemaliger Träger des Gelben Trikots bei der Tour de France, brachte noch eine weitere Möglichkeit seitens des Equipments ins Spiel. "Ich könnte mir eine Art Airbag vorstellen, den man sich wie beim Skifahren auf den Rücken schnallt", sagte er gegenüber dem belgischen Sender Sporza.
In einer Sportart, in der Ingenieure verzweifelt versuchen, überall Gewicht einzusparen, könnte dies jedoch schwer zu realisieren sein. Weil man nicht gewinnt, wenn man nicht bereit ist, bergab oder in einem engen Finale im rasenden Pulk volles Risiko zu gehen, fährt auch in Zukunft die Angst mit.
Oder wie der französische Radprofi Benoit Cosnefroy es ausdrückt: "Einen Radfahrer, der keine Angst hat, kenne ich nicht."