Susan Sontag kann nicht schweigen
12. Oktober 2003Eigentlich möchte sie keine Essays mehr schreiben, sondern nur noch Romane. Eigentlich möchte sie auch nicht dauernd politische Kommentare abgeben, sondern lesen, schreiben, inszenieren, ins Kino gehen und reisen. Doch dann tut sie's doch immer wieder. Susanne Poelchau sprach mit Susan Sontag in Tübingen, wo die Schriftstellerin letzte Woche ihre Poetikdozentur hatte.
Susan Sontag:
"Ich habe wahrscheinlich ein überentwickeltes Gewissen, dass ich immer meine, es sei meine Pflicht, mich an öffentlichen Diskussionen über Politik und Kultur zu beteiligen. Das ist die Staatsbürgerin in mir. Wahrscheinlich habe ich in meiner Jugend zu viel Kant gelesen. [...] Wir erleben gerade eine so radikale Wende in den USA und es gibt so wenig öffentliche Kritik, dass ich mich immer wieder aufgerufen fühle mich zu äußern."
Damit kommt sie den Deutschen gerade recht. Susan Sontag ist hierzulande so etwas wie eine amerikanische Vorzeigeintellektuelle, auch wenn sie es hasst, auf dieses Image oder überhaupt festgelegt zu werden. Für die europäische Linke ist sie eine Ikone, weil sie die Politik ihres Landes so gnadenlos anprangert.
Susan Sontag:
"Die Amerikaner haben entschieden, eine imperialistische Macht im altmodischen Sinn zu sein, Länder zu erobern, zu besetzen und zu verwalten [...]. Das müssen sie erst lernen, sie können es nicht, und sie richten gerade großen Schaden an im Irak. Aber sie haben erreicht, was sie wollten: Jetzt haben sie eine Basis im Mittleren Osten erobert. So lang diese Politik andauert - und ich denke, sie wird andauern - so lang ist Amerika nicht mehr, was es mal war. Meiner Meinung nach wurde der Irak angegriffen, nicht weil er eine Gefahr darstellt, sondern im Gegenteil - weil es der schwächste Staat im Mittleren Osten und am einfachsten zu erobern war."
Ihr letztes Buch heißt nun "Regarding the Pain of Others" (Das Leiden der anderen betrachten).
Susan Sontag:
"Es geht darin um den Krieg. [...] Es ist eine Reflexion über die Frage, was wir eigentlich mitbekommen vom Krieg, wenn wir nicht selbst dabei waren, sondern nur die Bilder sehen. Um diese Kluft zwischen den Bildern und der Realität geht es mir."
Susan Sontag scheut sich nicht, große Begriffe in den Mund zu nehmen: Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Moral und Wirklichkeit. Und das in einer Welt, der sie vor allem Verflachung und Zynismus vorwirft:
Susan Sontag:
"Wir leben in einer Welt, in der Menschen dazu ermutigt werden, zynisch zu sein, vulgär und trivial und diejenigen zu hassen, die es ernst meinen."
Zu letzteren zählt sie sich selbst. Eindeutig. Die 70-Jährige wirft ihre schwarze Mähne mit einer Handbewegung zurück und wettert gegen das Fernsehen und gegen die amerikanische Propaganda des Individualismus, der doch vor allem in der Freiheit besteht einzukaufen. Susan Sontag setzt dagegen auf die Kraft der Literatur. Wirkliche Literatur, so Susan Sontag, ermöglicht Einfühlung in fremde Welten und Gedanken. Und sie ist widersprüchlich, sie spiegelt die Komplexität der Wirklichkeit. Das genau kann ein Essay nicht, mag er noch so scharfsinnig sein:
Susan Sontag:
" [...]Man hat zwar den Eindruck, dass es wahr ist, was man schreibt, aber es ist sicher nie die ganze Wahrheit. Es ist vergleichbar mit dem Fotografieren. Man wählt einen bestimmten Ausschnitt und lässt vieles andere weg. Ein anderer Ausschnitt ergibt ein ganz anderes Foto."
So viel Wirklichkeit wie möglich aufzunehmen, darum geht es Susan Sontag immer. Durch Lesen, Reisen, konkretes Engagement - wie in Sarajewo, wo sie drei Jahre gelebt hat. Vor allem aber durch eine innere Haltung, die durch Flexibilität und Spontanität geprägt ist. Just do it - darin ist die heimliche Europäerin dann doch wieder sehr amerikanisch.