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Tomahawk: Deutschland soll US-Raketen bekommen

Veröffentlicht 12. Juli 2024Zuletzt aktualisiert 13. August 2024

Reaktion auf Russlands Aggression: Die USA wollen weitreichende Waffen in Deutschland stationieren. Kritik daran kam auch aus Kreisen der regierenden Sozialdemokraten. Nun hat das SPD-Präsidium zugestimmt. Worum geht es?

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USA 2002 | Neue Generation des Tomahawk-Marschflugkörpers mit verbesserter Zielsteuerung (10.11.2002)
Tomahawk-Marschflugkörper des US-Herstellers Raytheon: Seit mehr als 30 Jahren im EinsatzBild: Everett Collection/picture alliance

Erstmals seit den 1990er-Jahren wollen die USA wieder Mittelstreckenwaffen in Deutschland aufstellen. Das wurde beim jüngsten NATO-Gipfel in Washington vereinbart. "Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in der US-Hauptstadt. 

Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die USA ihre Arsenale weitreichender Waffen in Europa deutlich abgebaut, ebenso die Sowjetunion und deren Hauptnachfolgestaat Russland. Entspannung lag damals in der Luft; die Sicherheit schien trotzdem gewährleistet. Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 ist die alte Konfrontation zurückgekehrt. Und Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht militärisch "eine durchaus ernstzunehmende Fähigkeitslücke", wie er im Deutschlandfunk sagte.

Eine Frage der Reichweite

Bei den US-Waffen, die ab 2026 stationiert werden sollen, geht es um Marschflugkörper vom Typ Tomahawk. Diese haben sich seit mehr als dreißig Jahren bewährt, zuletzt im Kampf gegen die Huthi-Rebellen im Jemen.

Marschflugkörper fliegen im Gegensatz zu Raketen, die eine Ellipse als Flugbahn beschreiben, parallel zum Boden in sehr geringer Höhe. Daher können sie vom gegnerischen Radar nur schwer erfasst und abgefangen werden. Auch die Stationierung von US-Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit und Reichweiten von mehr als 2750 Kilometern ist für Deutschland geplant. Diese Hyperschallwaffen sind aber noch in den USA in Entwicklung.

Deutschland hat zwar mit den Taurus-Modellen leistungsfähige eigene Marschflugkörper. Diese fliegen aber nur etwa 500 Kilometer weit und werden von Flugzeugen aus der Luft abgefeuert. Die Tomahawks können dagegen vom Boden und von Schiffen aus starten und haben eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern. Zum Vergleich: Die Luftlinie von Berlin nach Moskau beträgt etwa 1600 Kilometer.

Bundeswehr-Tornado-Kampfjet im Flug mit Taurus-Marschflugkörper unter dem Rumpf (28.03.2017)
Bundeswehr-Kampfjet mit Taurus-Marschflugkörper unter dem Rumpf: Geringere ReichweiteBild: Andrea Bienert/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Zur russischen Enklave Kaliningrad an der Ostsee sind es sogar weniger als 600 Kilometer. Von dort droht auch die größte russische Gefahr, glaubt Verteidigungsminister Pistorius. Denn "Russland hat diese Waffensysteme schon seit längerem, unter anderem, wie wir vermuten, in Kaliningrad stationiert, das heißt, in absoluter Reichweite zu Deutschland und anderen europäischen Nationen", sagte er dem Ersten Deutschen Fernsehen.

Sorge vor einem Rüstungswettlauf

Die politische Reaktion in Deutschland auf die geplante Stationierung ist gespalten. Grob gesagt, wird sie von den Parteien der Mitte befürwortet und von den Rändern abgelehnt. Trotz kritischer Stimmen aus den eigenen Reihen, unter anderem von Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich, betrachtet die Kanzlerpartei SPD den Schritt gleichwohl als notwendig. Die Führung der SPD beschloss laut Medieninformationen am 12. August, der Stationierung zuzustimmen.

Ein positives Votum kommt ebenso von den beiden kleineren Partnern der Ampel-Koalition, den Grünen und der liberalen FDP. Zustimmung gibt es auch von der größten Oppositionspartei, der konservativen CDU/CSU.

Joe Biden und Olaf Scholz schütteln sich herzlich die Hände (10.07.2024)
US-Präsident Biden und Kanzler Scholz (im Juli in Washington): Stationierung beim NATO-Gipfel vereinbartBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Vertreter der rechtspopulistischen AfD, der Linkspartei und dem neu gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht, einer Abspaltung der Linkspartei, äußerten Sorge vor einem neuen Wettrüsten. "Die Stationierung macht Deutschland zur Zielscheibe", sagte Tino Chrupalla, einer der beiden AfD-Chefs. "Bundeskanzler Olaf Scholz handelt nicht im deutschen Interesse", so Chrupalla.

"Wir können uns definitiv auf ein neues Wettrüsten einstellen", glaubt Tim Thies vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Er meint aber auch: "Natürlich kann beides gleichzeitig stimmen. Die geplanten Abstandswaffen können wichtige Fähigkeiten in der NATO-Strategie sein, und trotzdem muss man von einer russischen Reaktion ausgehen."

Parallelen und Unterschiede zum NATO-Doppelbeschluss

Erinnerungen an den NATO-Doppelbeschluss zu Zeiten des Kalten Krieges werden wach. 1979 hatte das westliche Bündnis die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in Westeuropa angekündigt, um auf die sowjetische Bedrohung zu reagieren. Zugleich bot man der Sowjetführung in Moskau Abrüstungsverhandlungen an.

Das mündete einige Jahre später in mehreren Verträgen über nukleare Abrüstung. Aber der Doppelbeschluss spaltete die westdeutsche Gesellschaft und Politik extrem und führte zu Massendemonstrationen gegen die Stationierung, die nicht zuletzt von der zu jener Zeit entstehenden Grünenpartei getragen wurden. Auch Olaf Scholz protestierte damals als Jungsozialist gegen die US-Waffen.

Bundeswehrsoldaten bei Anti-Pershing-Demo in Bonn mit einer Raketenattrappe (22.10.1983)
Anti-Pershing-Demo in Bonn (im Oktober 1983): Protest auch von BundeswehrsoldatenBild: Heinz Wieseler/picture alliance

Thies weist zwar darauf hin, dass "am Ende dieses Prozesses damals der INF-Vertrag und die Verschrottung hunderter US-amerikanischer Raketen und noch mehr sowjetischer" stand, fügt aber hinzu: "Der Weg dahin war jedoch alles andere als unausweichlich und wurde nicht zuletzt durch das außergewöhnliche Verhältnis zwischen US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow bereitet."

Deutschland soll selbst Waffen entwickeln

Die jetzt geplante Stationierung ist offenbar nur als Übergangslösung gedacht. Bundesverteidigungsminister Pistorius sagte im Deutschlandfunk, dass damit "ganz klar" und "zu Recht" die Erwartung der USA verbunden sei, "dass wir selber investieren in Entwicklung und Beschaffung von derartigen Abstandswaffen". Deutschland werde damit die Zeit gegeben, eigene Waffen zu entwickeln.

Möglicherweise wurden bereits erste Schritte dazu eingeleitet, und zwar ebenfalls beim Washingtoner NATO-Gipfel. Denn die Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Polens haben dort eine Absichtserklärung zur Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 500 Kilometern unterzeichnet.

Boris Pistorius schüttelt Bundeswehrsoldaten in Litauen die Hände (08.04.2024)
Verteidigungsminister Pistorius (beim Besuch von Bundeswehrsoldaten im April in Litauen): "Ernstzunehmende Fähigkeitslücke"Bild: Sean Gallup/Getty Images

Dass die Stationierungspläne bei einem Wahlsieg von Donald Trump abgeblasen werden könnten, glaubt Tim Thies nicht, im Gegenteil: "Viele der Waffensysteme, um die es jetzt geht, wurden gerade unter Trump angestoßen. Zudem soll Deutschland für deren Stationierung laut Pistorius selbst zahlen. Die Bundesregierung scheint etwaige Forderungen von einem möglichen künftigen Präsidenten Trump nahezu vorbeugend zu antizipieren."

Schon jetzt an Ausstieg aus der Rüstungsspirale denken

Die Moskauer Reaktionen auf die Pläne lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, waren aber auch so erwartet worden. Die russische Sicherheit werde durch die US-Waffen beeinträchtigt, sagte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow der staatlichen Nachrichtenagentur TASS zufolge. Es handle sich um "ein Kettenglied im Eskalationskurs" der NATO und der USA gegenüber Russland. 

Friedensforscher Thies von der Universität Hamburg erwartet, "dass Russland auf die Ankündigung mit der Stationierung und weiteren Entwicklung eigener, in diesem Fall nuklearer, Langstreckensystem reagiert, die gegebenenfalls auch das Gebiet der USA erreichen können". Das spricht zwar aus seiner Sicht nicht gegen die Stationierung, aber er rät, dabei "mitzudenken, wie der Weg aus der sich anbahnenden Rüstungsspirale einmal herausführen könnte".

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Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik