Tour de France: Immer schneller – immer gefährlicher?
29. Juni 2024Eine unscheinbare Bergstraße im Norden Spaniens. Kurvig windet sich das Asphaltband vom Alto de Olaeta hinab ins Tal. Mit bis zu 14 Prozent Gefälle fällt die Straße hinab - steil, aber für Radprofis nichts Ungewöhnliches. Und dennoch kommt dem kleinen Bergsträßchen im Baskenland eine große Bedeutung zu, denn sie könnte die diesjährige Tour de France mitentscheiden. Nicht etwa, weil dort eine Bergetappe der Frankreich-Rundfahrt endet, sondern weil eines der Vorbereitungsrennen dort einen tragischen Zwischenfall erlebte.
Im April rasten drei der vier Top-Favoriten der am Wochenende beginnenden Tour de France bei der Baskenland-Rundfahrt den Alto de Olaeta hinab und stürzten schwer: Primoz Roglic (Slowenien), Remco Evenepoel (Belgien) und Tour-Sieger Jonas Vingegaard (Dänemark) kamen bei hohem Tempo zu Fall, prallten teilweise auf einen Beton-Abfluss und zogen sich zahlreiche Knochenbrüche zu. Die Ursache: Fahrbahnunebenheiten und zu hohes Tempo. Die Auswirkungen: ungewiss. Der einzige nicht gestürzte Top-Favorit gilt als heißester Anwärter auf den Toursieg: Tadej Pogacar (Slowenien), der beim Giro d'Italia nach Belieben dominierte und nun das Double Giro-Tour anpeilt. Hinter seinen Hauptkonkurrenten Roglic, Evenepoel und Vingegaard stehen aufgrund der sturzbedingt verkürzten Vorbereitung Fragezeichen.
Sind die Fahrer schuld an den Stürzen?
Stürze gehören seit jeher zum Radsport. Doch in jüngster Zeit scheinen sich schwere Stürze zu häufen, nach dem Favoritentrio stürzte auch Topstar Wout van Aert und brach sich bei hoher Geschwindigkeit mehrere Knochen. Woran liegt das? Auch am herrschenden Leistungsdruck, sagt Adam Hansen, der 20 Jahre lang als Radprofi fuhr und seit letztem Jahr die Fahrergewerkschaft CPA leitet. "Risiko ist Teil des Jobs. Wenn du Schwäche zeigst oder nicht das nötige Risiko eingehst, dann gibt es hinter dir 20 andere Fahrer, die es tun würden. Und die sportlichen Leiter merken sich so etwas. Wenn du nicht bereit bist, Risiken einzugehen, dann verlierst du deinen Platz im Team."
Und so ist es einmal mehr der Faktor Mensch, der das ganze Spiel gefährlicher macht. "Auf Basis der Datenbank der UCI, mit der wir arbeiten, wird die Hälfte der Stürze im Profiradsport durch die Fahrer verursacht", weiß Hansen. Er sieht auch die Profis selbst in der Verantwortung, fatale Stürze zu vermeiden und risikobewusster zu fahren. Hansen setzt sich daher auch für eine disziplinierende Maßnahme ein: die Einführung von Gelben und Roten Karten im Radsport. "Das wird eine große Verbesserung bringen, denn bislang wird niemand bei Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen", sagt der Australier im DW-Gespräch. Allerdings erst nach der Tour, das neue System wird ab August getestet.
Eine andere Maßnahme kommt jetzt schon: die Erweiterung der Drei-Kilometer-Regel. Bei Etappen mit flachen Zielankünften wurden bisher alle Fahrer, die auf den letzten drei Kilometern stürzten oder eine Panne hatten, mit der gleichen Zeit gewertet wie die Gruppe, der sie zum Zeitpunkt des Sturzes angehörten. Dieser Punkt wird nun auf fünf Kilometer vor dem Ziel vorgezogen. "Das war ein großer Wunsch der Fahrer", so Hansen. Viele Klassementfahrer hätten Angst, im Finale Zeit zu verlieren. Die entstehende Rivalität zwischen Sprintteams und Mannschaften, die aufs Gesamtklassement fahren, führe zu viel Hektik im Finale.
Sind die Strecken zu gefährlich?
Aber reicht das? Ein Blick in die Daten zeigt, dass der riskanteste Abschnitt von Radrennen schon früher beginnt. "Die Mehrheit der Stürze passieren innerhalb der letzten 20 bis 30 Kilometer", weiß Steven Verstockt, Informatiker und Datenanalyst von der Universität Gent in Belgien. In seinem Projekt Course hat er mehr als 1000 Stürze im Profiradsport erfasst und wissenschaftlich ausgewertet – mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Der Weltradsportverband nutzt Verstockts Daten bereits, doch der Forscher fordert mehr Offenheit für Technologie auch bei Veranstaltern wie der Tour de France, um Radrennen sicherer zu machen: "Mein Vorschlag wäre, dass jeder Fahrer einen Sensor erhält, der seine Daten aufzeichnet. Das würde uns helfen, das Rennen besser zu verstehen und auch um Fehlerverhalten zu ahnden."
Ein Ziel des Projekts ist es, Verbänden und Veranstaltern datenbasierte Antworten zu geben, welche Streckenabschnitte besonders gefährlich sind. Dabei werden unter anderem Onboard-Kameras und GPS-Daten der Fahrer ausgewertet. Zu den häufigsten Sturzursachen zählen laut der KI-basierten Auswertung schnelle und enge Abfahrten sowie wechselnde oder schlechte Fahrbahnbeläge.
Genau diese Streckenabschnitte faszinieren aber die Fans: Hochgebirgsetappen mit steilen Anstiegen und schnellen Abfahrten sowie Kopfsteinpflasterstrecken sind Publikumsmagneten. Die spektakulären Passagen können aber im schlimmsten Fall tödliche Folgen haben. Immer wieder stürzten Athleten bei hoher Geschwindigkeit so schwer, dass sie den Unfall nicht überlebten. Wouter Weylandt 2011, Chad Young 2017, Bjorg Lambrecht 2019 oder Gino Mäder 2023 - tragische Rennunfälle, die die Debatte um die Sicherheit der Fahrer neu entfachten. Die Tour reagiert mit zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen: Gefährliche Kurven werden mit gepolsterten Barrieren abgesichert, und akustische Signale warnen die Fahrer vor brenzligen Streckenabschnitten. Aber gibt es überhaupt einen sicheren Radsport?
Immer schneller, immer gefährlicher dank neuem Material?
Angesichts von Geschwindigkeiten von bis zu 130 Stundenkilometer auf Gebirgsabfahrten, gefahren auf 25 bis 32 Millimeter breiten Reifen ist absolute Sicherheit eine Illusion. Das weiß auch Phil Bauhaus. Der deutsche Sprinter startet zu seiner zweiten Tour de France und hat im Vorjahr gelernt: "Die Risikobereitschaft von jedem einzelnen Fahrer ist bei der Tour nochmal höher als bei anderen Rennen, weil es für jedes Team und jeden Fahrer um sehr viel geht", erzählt er im DW-Interview. Und deshalb zählt jedes Detail für den Erfolg: Im Windkanal aerodynamisch optimierte Räder, Bekleidung, Helme und sogar Socken sind längst Standard im Peloton. Dazu kommen immer flachere Sitzpositionen auf dem Rad, Reifen mit reduziertem Rollwiderstand und eine optimierte Ernährung und Erholung der Fahrer. Jedes Team sucht die einst vom Erfolgsteam Sky eingeführten "marginal gains", die kleinen Zugewinne, die für den Unterschied sorgen - und die das Rennen immer schneller machen.
Die Tour stellte 2022 mit 42,1 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit einen neuen Rekord auf, in diesem Jahr wurden bei den Klassikern Mailand - Sanremo (46,1 km/h) und Paris - Roubaix (47,8) neue Fabelwerte erzielt. Was heißt das für die Rennen? "Die Reaktionszeit ist geringer und der Bremsweg länger, was es schwieriger macht, einen Sturz zu vermeiden", sagt Phil Bauhaus nüchtern. Er fordert Anpassungen bei den Strecken, mehr breite Bundesstraßen. Das berge weniger Gefahren für die Fahrer. Denn einen Weg zurück gebe es nicht: "Die Radhersteller und Bekleidungshersteller wollen natürlich das beste Material präsentieren und verkaufen. Wir Profis sind die Leute, die dafür Werbung machen. Ich glaube nicht, dass die Sponsoren uns schlechteres Material geben wollen, damit wir langsamer fahren. Ich wüsste nicht, wie man den Sport wieder verlangsamen könnte."