Tour de France: "Sprinten ist ein Kontaktsport"
3. Juli 2024Mark Cavendish hat am fünften Tag der Tour de France Radsport-Geschichte geschrieben. Der inzwischen 39 Jahre alte britische Sprint-Spezialist sicherte sich im Massenspurt den 35. Tour-Etappensieg seiner langen Karriere. Damit überholte er in der Rekordliste sogar Eddy Merckx. Die Radsport-Legende aus Belgien hatte bei der Frankreich-Rundfahrt 34 Tageserfolge gesammelt. Im Gegensatz zum reinen Sprinter Cavendish gewann Merckx allerdings auch Bergetappen und holte sich fünfmal den Tour-Gesamtsieg.
DW Sport hat im Vorfeld der Tour mit dem deutschen Topsprinter Phil Bauhaus über die Besonderheit von Massensprints im Radsport allgemein und bei der Tour de France im Besonderen gesprochen.
DW: Tom Steels, ehemaliger belgischer Top-Sprinter und heute Sportlicher Leiter eines Profi-Radteams, hat einmal gesagt, dass sich ein Massensprint so anfühle, wie mit 200 Stundenkilometern durch einen Stau zu fahren. Wie fühlt sich ein Sprint für Sie an?
Phil Bauhaus: Sprints sind schon sehr intensiv. Denn die Risikobereitschaft jedes einzelnen Fahrers ist bei der Tour noch mal höher als bei anderen Rennen, weil es für jedes Team und für jeden Fahrer um sehr viel geht. Ich bekomme immer sehr viel Adrenalin beim Sprinten, weil es bei sehr hoher Geschwindigkeit sehr, sehr eng wird. Natürlich liegt das auch am Parcours. Wenn im Finale noch viele Kurven und Hindernisse zu bewältigen sind, steigt die Anspannung noch mehr. Sprinten ist ein Kontaktsport. Man kommt in Berührung mit den anderen Fahrern, und man muss sich als Sprinter durchsetzen. Man geht viel Risiko ein bei Geschwindigkeiten von 50 bis 60 km/h. Von daher bin ich nach dem Ziel auch immer froh, wenn alles gut geklappt hat. Wenn ich dann zurück zum Teambus komme, merke ich oft, dass ich noch zittrige Hände habe vom Adrenalin, dass ich noch unter Strom stehe.
Sind die Sprintfinals bei der Tour de France anders als bei anderen Rennen?
Ich bin die Tour letztes Jahr zum ersten Mal gefahren. Für mich ist definitiv ein Unterschied festzustellen. Es geht schon viel früher los mit Positionskämpfen. Bei einem normalen Radrennen organisieren sich die Teams etwa 20 bis 30 Kilometer vor dem Ziel. Bei der Tour beginnt das teilweise schon 50, 60 oder sogar 70 Kilometer vor dem Ziel. Dann wollen alle nach vorne: die Bergfahrer und Klassementfahrer, aber natürlich auch die Sprinterteams. Das Grundtempo ist einfach ein viel höheres, weil jeder Fahrer, der bei der Tour am Start steht, in der Regel mit Topform ankommt. Die Geschwindigkeit ist ein bis zwei km/h höher, und das Finale wird länger ausgefahren. Weil es enger zugeht und mehr Risiko eingegangen wird, kommt es auch häufiger zu Stürzen als normal. Und das liegt am Ende an uns Fahrern.
Einige Teams setzen auf lange Sprintzüge, andere schicken ihre Sprinter nur mit maximal einem Anfahrer ins Finale. Macht es das Ganze sicherer, wenn man mehr Anfahrer dabei hat?
Ja, für mich als Sprinter ist es viel entspannter, weil ich nur meinen Teamkollegen hinterherfahren muss. Das klingt jetzt leichter, als es ist. Aber je besser der Sprintzug ist, desto entspannter kann der Sprinter sein. Wenn ich am Hinterrad meines Teamkollegen bin, weiß ich, dass er da ist, um mir zu helfen und Windschatten zu geben, mich besser zu positionieren. Wenn man auf sich alleine gestellt ist, ist es manchmal Glückssache, ob man überhaupt noch nach vorne kommt.
Wie viel Risiko gehört zum Job, wie viel ist zu viel?
Zunächst einmal: Von außen sieht es oft gefährlicher aus, als es eigentlich ist. Ich bin physisch nicht der stärkste Fahrer, aber ich kann mich ganz gut im Feld bewegen. Und je öfter ich es gemacht habe, desto wohler fühle ich mich darin. Das heißt, ich kann das Risiko abschätzen. Ich versuche, nicht zu überreizen, dass es nicht zum Sturz kommt. Ich glaube, ich habe bisher keinen Sturz ausgelöst. Und wenn ich doch gestürzt bin, dann deshalb, weil andere Fahrer vor mir gestürzt sind. Das kann man nicht vermeiden, wenn andere Leute Fehler machen. Aber grundsätzlich geht jeder bis zu seinem persönlichen Limit. Für den einen kommt das ein bisschen früher, für den anderen ein bisschen später.
Der Radsport-Weltverband UCI denkt daran, die Drei-Kilometer-Regel zu erweitern. Bei Stürzen in diesem Bereich vor dem Ziel kommt es zu keinem Zeitverlust. Was denken Sie darüber?
Es ist eine gute Option, wenn man diese Distanz verlängert. Heute ist es nicht mehr ganz so wie früher, dass man nur Profi wird, wenn man Radrennen gewonnen hat. Heutzutage wird man auch Profi, wenn man extrem gute Werte fährt, also ein gutes Verhältnis Watt pro Kilogramm Körpergewicht hat. Es gibt im Feld inzwischen physisch starke Fahrer, die sieben Watt pro Kilogramm treten können, die aber weniger Erfahrung im Radsport und weniger Fahrrad-Skills haben. Und die sind gezwungen, mit uns Sprintern bis drei Kilometer vor dem Ziel Positionskämpfe auszufechten. Das ist für mich ein Risiko. Für mich wäre es besser, wenn wir die Regelung auf fünf bis sieben Kilometer vor dem Ziel vorziehen.
Apropos Leistungswerte: Wie viel Watt muss man als Sprinter treten, um eine Etappe zu gewinnen?
Das ist natürlich abhängig davon, wie schwer die Etappe zuvor war. Zudem kommt es darauf an, wie viel man wiegt. Mark Cavendish ist als kleiner Fahrer deutlich leichter als ich, er muss weniger Watt treten. Aber grob gesagt sollte man schon 1400 bis 1500 Watt treten können. Das klingt nicht so hoch, ein ambitionierte Amateur kann das vielleicht auch treten. Aber das Schwere ist halt, dass man diese Werte noch nach 200 Kilometern mit intensiver Fahrweise treten können muss.
Höhere Geschwindigkeiten bedeuten in Konsequenz auch kürzere Reaktionszeiten im Fall von Stürzen. Ist der Radsport bald zu schnell, um noch reagieren zu können?
Ja, die Reaktionszeit wird geringer und der Bremsweg länger, was es schwieriger macht, einen Sturz zu vermeiden. Ich glaube, man muss die Strecken anpassen und größere Straßen wählen. Wir müssen vielleicht mehr auf Bundestraßen gehen, die weniger Gefahren bergen, als wenn man durch tausend kleine Dörfer fahren muss. Denn ich glaube nicht, dass es einen Weg zurück gibt. Die Rad- und Klamottenhersteller wollen natürlich das beste Material präsentieren und auch verkaufen. Und wir Profis sind diejenigen, die die Werbung dafür machen. Ich glaube nicht, dass die Sponsoren uns schlechteres Material geben, damit wir langsamer fahren, weil es am Ende die Unternehmen sind, die Geld verdienen müssen. Ich wüsste nicht, wie man den Sport wieder verlangsamen könnte.
2023 standen Sie dreimal auf dem Podium, waren nahe dran am Tour-Etappensieg. Was braucht es dieses Jahr, um eine Etappe zu holen?
Ich bin in einer ähnlichen Form wie im vergangenen Jahr. Wir brauchen auch eine ähnlich gute Teamleistung wie 2023. Und auch mein Positionskampf muss mir wieder so gut gelingen. Für einen Sieg brauche ich an der einen oder anderen Stelle noch etwas mehr Energie. Und dann kommt es darauf an, was die Konkurrenz macht. Im letzten Jahr war es eine extreme Tour de France von Jasper Philippsen [belgischer Sprintspezialist - Anm. d. Red.], der vier von fünf Sprints gewonnen hat. Er war einfach einen kleinen Schritt vor allen anderen Sprintern. Vielleicht ist es in diesem Jahr wieder ausgeglichener. Man braucht immer ein bisschen Glück. Ich hoffe natürlich, dass ich den einen Tag habe, wo alles zusammenkommt.
Phil Bauhaus, Jahrgang 1994, ist seit 2015 Radprofi und fährt aktuell im Team Bahrain-Victorious. Der Bocholter zählt aktuell zu den stärksten Sprintern der Welt. Im Vorjahr fuhr er bei drei Tour-de-France-Etappen aufs Podium und peilt in diesem Jahr seinen ersten Etappensieg an.
Das Interview führte Joscha Weber.
Der Artikel wurde nach Cavendishs Rekord-Etappensieg am 3. Juli aktualisiert.