Türkei-Wahl: Hoffnung bei deutschen Politikern
8. Mai 2023Am kommenden Sonntag findet in der Türkei die wichtigste und spannendste Wahl seit Jahrzehnten statt: Da sind sich fünf Bundestagsabgeordnete, drei von ihnen mit türkischen Wurzeln, einig. Geht am Sonntag, oder vielleicht bei der möglichen Stichwahl 14 Tage später, die Amtszeit von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu Ende?
Der sich mehr und mehr als Autokrat geriert, dem Menschenrechtsverletzungen, Willkür und Korruption zur Last gelegt werden?
"Die Hoffnung war noch nie so groß"
Ja, das scheint möglich, und deshalb haben die Parlamentarier einen ungewöhnlichen Schritt gewählt: An diesem Montag vor der Wahl treten die Abgesandten aller Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der "Alternative für Deutschland" (AfD) in Berlin vor die Presse. Ates Gürpinar, Vize-Parteichef der Linken, fasst im Gespräch mit der DW zusammen, was alle fünf Volksvertreter denken: "Die Hoffnung war noch nie so groß, dass die Ära Erdogan zu Ende geht. Aber wir haben auch Furcht: Es hat schon jetzt Festnahmen und Übergriffe gegeben, auch Wahlbetrug und Manipulation sind zu befürchten. Aber wir haben eben auch die Hoffnung, dass große Veränderungen in der Türkei anstehen könnten."
Kommt es zum Kopf-an-Kopf-Rennen?
Wenn es so kommt, wie viele Umfragen sagen, dann hat eine mögliche neue Türkei einen Namen: Der Herausforderer von Erdogan heißt Kemal Kilicdaroglu. Der 74-Jährige galt lange als Politiker von gestern, der noch nie eine wichtige Wahl gewonnen hat. Aber jetzt hat er es geschafft, ein Wahlbündnis aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien zu formen. Und die hat Chancen, die parallel stattfindende Parlamentswahl und die Präsidentenwahl zu gewinnen. Auch die populären Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, unterstützen Kilicdaroglu. Zumindest ein Kopf-an-Kopf-Rennen scheint wahrscheinlich.
Hauptthema in der Türkei: Wirtschaft und Inflation
Was sind die Gründe dafür? Der Wirtschaft in der Türkei geht es schlecht,die Inflation, zwischenzeitig bei 80 Prozent, hat sich nach offiziellen Angaben bei 50 Prozent eingependelt, einem schwindelerregenden Wert. Viel mehr als alles andere ist dieses Thema der Grund für die schlechte Stimmung, für die schlechten Werte Erdogans. In Deutschland und anderen Ländern wird aber oft auch die Enttäuschung der Menschen in der Türkei über die schleppende Hilfe für die Opfer des schlimmen Erdbebens vom 6. Februar angeführt.
"Die Erdbebenhilfe sehen viele differenziert"
Serap Güler, für die konservative CDU im Bundestag, hat die Erdbebengebiete besucht und kann das so pauschal nicht unterschreiben. Sie sagt der DW, allein der türkische Rote Halbmond, das Pendant zum deutschen Roten Kreuz (aber anders als in Deutschland eine Regierungs-Organisation), verteile in einer der Erdbeben-Provinzen 900.000 Mahlzeiten am Tag. Und die Regierung hat angekündigt, viele Gebäude innerhalb eines Jahres neu bauen zu wollen. Güler über ihren Besuch im Katastrophen-Gebiet: "Ich hatte die Vorstellung, dass ich dort nur auf wütende Menschen treffe, aber das kann ich nicht bestätigen. Viele sagen: Das ist eine große Krise, und da können wir niemanden Unerfahrenen ans Ruder lassen."
Wahlkampf in Deutschland "etwas unter dem Radar"
Bleibt zumindest die wirtschaftliche Talfahrt nach langen Jahren des Wachstums. Vor allem die jungen Türkinnen und Türken zwischen 18 und 25 Jahren haben die Hoffnung auf Besserung offenbar aufgegeben. In den Umfragen geben nur zwischen 17 und 20 Prozent von ihnen an, sich für Erdogan entscheiden zu wollen. Und die rund 1,5 Millionen bei der Wahl stimmberechtigten Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben? Wie werden sie sich nach Ansicht der Abgeordneten entscheiden? Alle fünf erleben den Wahlkampf in Deutschland als weniger laut und schrill als bei Erdogans letztem Sieg 2018, als es zahlreiche Massenveranstaltungen vor allem der regierenden AKP Erdogans auch in Deutschland gab. Denn die deutschen Behörden haben nun strengere Auflagen erlassen. Max Lucks von den Grünen, Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, erlebt den türkischen Wahlkampf in Deutschland "diesmal etwas unter dem Radar".
Kann die Opposition in Deutschland mobilisieren?
Neu ist: Die Menschen mit türkischem Pass dürfen schon jetzt wählen in Deutschland, bis Mitte der Woche noch. Gürpinar hat in Frankfurt gewählt und berichtet von langen Schlangen vor dem dortigen Konsulat. Um fast 23 Prozentpunkte ist die Wahlbeteiligung schon jetzt höher als 2018, als nur knapp die Hälfte der Berechtigten überhaupt zur Stimmabgabe schritt. Über 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken entschieden sich damals für Erdogan. Hat jetzt die Opposition stärker mobilisiert als zuletzt, ist das der Grund für die höhere Beteiligung? Die Abgeordneten hoffen es.
"Die Menschen sollen die Demokratie wählen"
Unterschiedliche Ansichten gibt es bei den Parteien, ob deutsche Politiker offen zur Wahl des Oppositions-Bündnisses aufrufen sollen. Grünen-Chefin Ricarda Lang hat das getan, aber nach Ansicht von Serap Güler sollten deutsche Politiker sich vorsichtig verhalten und Erdogan keine Möglichkeit bieten, sich als Opfer von Gegnern im Ausland darzustellen. Güler: "Es reicht doch, dass die Menschen sich für die Demokratie in der Türkei entscheiden sollen." Einig sind sich alle fünf dann wieder, dass Deutschland schnell reagieren sollte, wenn die Opposition in der Türkei tatsächlich gewinnt.
Hoffnung auf Visa-Erleichterungen
Der Rechtsanwalt und SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoğlu, der als elfjähriger Junge aus der Türkei nach Deutschland kam, listet auf Frage der DW einige Maßnahmen innerhalb der ersten 100 Amtstage einer neuen Regierung in der Türkei auf, die er sich vorstellt: "Visa-Erleichterungen wären wahnsinnig wichtig. Ich habe als Anwalt sehr viele Menschen erlebt, etwa Künstler, die nach Deutschland kommen wollten für ein Konzert, oder Menschen, die einfach nur ihre Freunde besuchen kommen wollten." Es sei eine Schikane, wenn die Menschen Wochen und Monate warten müssten in den deutschen Konsulaten in der Türkei.
Auch den Ausbau der Zollunion zwischen Deutschland und der Türkei müsse man schnell angehen. "Und Signale sind wichtig: So könnte Bundeskanzler Olaf Scholz ja in den ersten hundert Tagen in die Türkei reisen, um der möglichen neuen Regierung den Rücken zu stärken."
Aber jetzt warten die fünf Abgeordneten erst einmal auf die Wahl am Sonntag. Einige von ihnen werden den Tag als Wahlbeobachter etwa des Europarates vor Ort erleben. Und, so Jens Teutrine von der FDP: Wie auch immer die Wahl ausgehe, die Türkei bleibe ein polarisiertes Land mit großen Problemen. Wichtig sei aber jetzt, dass sich Ankara wieder dem Westen und der Demokratie zuwende. Und alle fünf hoffen, dass sich Erdogan einem möglichen friedlichen Machtwechsel nicht entgegen stellt.