Warum ein Segen für Homosexuelle sensationell sein kann
19. Dezember 2023Für Kirchenexperten ist es eine kräftige Überraschung. Kurz vor Weihnachten, da auch im vatikanischen Apparat schon langsamer gearbeitet wird und viele an die anstehenden Feierlichkeiten und ruhigeren Tage denken, erlaubt der Vatikan ausdrücklich mit dem Segen des Papstes eine kirchliche Segnung für gleichgeschlechtliche Paare.
Dabei ist im Vatikan-Sprachgebrauch offiziell die Rede von der "Segnung von Paaren in irregulären Situationen und gleichgeschlechtlichen Paaren". Irreguläre Situationen - das meint zum Beispiel Paare, bei denen mindestens ein Partner vorher bereits kirchlich verheiratet war und diese Ehe nicht annulliert wurde oder bei denen einer der beiden Partner vorher Priester oder Ordensangehöriger war.
Mit Blick auf die ganze Bandbreite von Beziehungen sagt die vatikanische Erklärung: "Gott weist nie jemanden ab, der sich an ihn wendet!" Die Kirche begleite sie alle mit geistlichen Hilfen, "die es jedem ermöglichen, den Willen Gottes in seiner Existenz vollständig zu verstehen und zu verwirklichen".
Vatikan macht strenge Vorgaben
Und um jeden Eindruck einer Gleichstellung mit einer Ehe von Mann und Frau, die für die Kirche ein Sakrament ist, zu vermeiden, macht der Vatikan viele Vorgaben: Der Segen dürfe nicht während eines Gottesdienstes erfolgen, nicht wie eine Eheschließung aussehen und nicht mit einer standesamtlichen Feier oder der Eintragung einer Lebenspartnerschaft zusammenhängen.
Folglich geht die Bewertung der überraschenden römischen Erklärung in Deutschland auseinander. Viele bemängeln die zahlreichen Beschränkungen, andere sprechen von einer Sensation. Dazu zählt zum Beispiel der Münchner Priester Wolfgang Rothe. Der 56-Jährige ist selbst sowohl promovierter Kirchenrechtler als auch promovierter Theologe und hat sich während der vergangenen Jahre für die Bewegung "Out in Church" engagiert, die einen anderen Umgang der Kirche mit Homosexualität und mit gleichgeschlechtlich orientierten Mitarbeitenden fordert.
"Das ist eine Sensation, die weit über den konkreten Anlass hinausgeht", sagt Rothe der Deutschen Welle. Angesichts der vielen Einschränkungen und Bedingungen für nun mögliche Segnungen sei die Sensation zwar "gar nicht so groß". Aber wichtig sei: "Es ist das erste Mal, dass der Vatikan eine von ihm selbst getroffene Entscheidung ausdrücklich korrigiert. Das zeigt, das die bislang geltende Doktrin fällt, sich niemals zu korrigieren, niemals eine Lehre zu ändern, niemals zu sagen, dass man Unrecht gehabt hat. Da wurde eine Bresche in eine Mauer gebrochen."
Da spielt der Theologe darauf an, dass der Vatikan noch 2021 hochoffiziell eine Segnung homosexueller Beziehungen strikt ausgeschlossen hatte. Das ist erst gut zwei Jahre her. Und doch hatte das Engagement der "Out in Church"-Bewegung in Deutschland und anderen Ländern nicht nachgelassen.
In der Bewertung der vatikanischen Erklärung zeigt sich die Breite und Weite der katholischen Weltkirche - ihre zum Teil ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten und gegensätzlichen Einschätzungen.
In einigen Weltregionen ist schon die Perspektive, dass der Vatikan einen Segen für gleichgeschlechtliche Paare für möglich hält, so sensationell wie skandalös. Vielfach sind die Bischöfe in Ländern, die jede Anerkennung von homosexueller Identität überhaupt ablehnen, entsprechend streng.
Unterschiedliche Positionen in Polen, Afrika, Lateinamerika
Rothe verweist auf europäische Länder wie Polen, auch auf Regionen in Afrika und Lateinamerika, "die nicht nur politisch konservativere Führungen haben, sondern auch konservative Kirchenführer". Gerade mit Blick auf solche Regionen der Weltkirche sei es wichtig, dass die vatikanische Erklärung "die Unterschrift des Papstes persönlich trägt. Das ist bei solchen Erklärungen eher ungewöhnlich", so der Theologe.
Geschrieben hat das Dokument der noch recht neue Präfekt der vatikanischen Glaubensbehörde und Chef-Theologe des Papstes, Kardinal Victor Fernandez. Ein argentinischer Landsmann von Franziskus. Dass dieser eigenhändig seine Unterschrift unter den Text setzt und damit sein Gewicht darauf legt, ist bei einer solchen Erklärung ungewöhnlich.
Das zeige, dass man dem Text "einen sehr hohen lehramtlichen Stellenwert zubilligt". In dieser Frage sei das gewiss auch notwendig, weil die Tendenz in vielen Ländern der Erde "eher gegenläufig" sei. Rothe verweist auf Ghana, ein Land, in dem männliche Homosexualität unter Strafe steht. Dort hätten die katholischen Bischöfe noch vor wenigen Tagen mit einer Erklärung den Kurs der Regierung gestützt, das Strafmaß für homosexuellen Personen zu verschärfen. Weltweit wird Homosexualität noch in mehr als 60 Ländern strafrechtlich verfolgt.
So nennt Rothe die Erklärung des Vatikan "gerade in diese Richtung revolutionär". Denn der Vatikan breche damit seine bisherige Linie auf, auf die sich die Bischöfe in Afrika oder Osteuropa bislang hätten berufen können.
Allmählich wird diese globale Perspektive auch von kirchlichen Repräsentanten stärker betont. So sagte der Münchner Kardinal Reinhard Marx einen Tag nach dem Spruch aus Rom, dieser Schritt möge für die Katholiken in Deutschland klein ausschauen - "aber für manche in der Weltkirche ist das gewaltig, das so zu hören, dass das möglich sein soll". In Afrika würden bestimmt einige den Kopf schütteln.
Und einer der angesehensten jüngeren katholischen Theologen in Deutschland, der in Münster lehrende Dogmatiker Michael Seewald, sprach von einem bahnbrechenden Schritt, von der "bedeutendsten Neuerung seit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965" bezüglich der Weiterentwicklung der kirchlichen Glaubens- und Morallehre. Dem "Kölner Stadt-Anzeiger" sagte er: "Während die offizielle Lehre der Kirche homosexuelle Praktiken bislang als schwere Sünde bezeichnete und der Meinung war, dass aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nichts Gutes erwachsen könne, hat sich die Perspektive nun verändert."
Abzuwarten bleibt, so sagen Beobachter, ob Papst Franziskus im kommenden Jahr noch ähnliche Entscheidungen bei anderen kirchlichen Streitfragen formuliert. Auch Kardinal Marx sprach bei seiner Bewertung bereits davon, dass sich die katholische Sexuallehre insgesamt weiterentwickeln und den Duktus einer Verbotsmoral ablegen müsse.